Interview

"Eine große Entlassungswelle ist in unserer Region ausgeblieben"

Das Ausbleiben der Einkaufstouristen war für viele Unternehmen in der Region ein schwerer Schlag. In Verbindung mit der Corona-bedingten Schließung, hat dies vielen Unternehmen oder gar ganzen Wirtschaftszweigen schwere Schäden zugefügt. Lassen sich die Auswirkungen inzwischen genauer beziffern? Welche Branchen haben besonders stark gelitten? Wie schätzt die IHK die aktuelle Lage ein?
Die Auswirkungen von Lockdown und Grenzschließung für unsere Region werden sich erst zum Jahresende hin valide einschätzen lassen. Es geht um den Saldo aus einem Totalausfall jeglicher Geschäftstätigkeit (Lockdown), einer Phase des Wiederanlaufes ohne die Kunden aus der Schweiz und schließlich der mehr oder minder gelingenden Erholung unter Corona - Bedingungen (Hygienekonzepte, Maskenpflicht). Für die Bilanz am Jahresende wird entscheidend sein, wie viel Boden in der letzten der drei genannten Phasen wieder gut gemacht werden konnte. Aktuell lässt sich immerhin sagen, dass es dem Handel generell in unserer Region im Juni und August besser ging als erwartet.
Die Situation ist von Ort zu Ort und in den Branchen unterschiedlich. Während Gastronomie, Hotellerie und Freizeitanbieter von einem guten Sommer und starkem Inlandstourismus profitieren konnten und die Innenstädte, etwa in Konstanz oder Weil am Rhein mittlerweile wieder gut frequentiert werden, sind in Mittelzentren wie Bad Säckingen und Rheinfelden eher die Einkaufszentren auf der grünen Wiese wieder gut besucht. Und während die großen Einkaufszentren vielerorts bereits ihren Vor-Corona-Umsatz erreicht haben, warten Geschäfte in den Innenstädten noch auf einen Teil ihrer Kunden. Zusammengefasst kann man sagen: Die Schweizer (und nicht nur sie) kaufen wieder viel ein, das Einkaufsverhalten ist aber eher "technisch", es wird eher beschafft und besorgt als gestöbert, probiert und entdeckt, die Lust am Shopping und das Flanieren sind noch verhalten - hier wird deutlich, dass die Pandemie eben nicht vorbei ist, sondern nach wie vor unseren Alltag bestimmt und verändert.
Einzelnen Branchen können indessen gerade von dieser Situation profitieren. Dazu gehören Möbelhäuser. Obwohl sich die Nachfrage derzeit eher auf die Dinge des täglichen Bedarfes konzentriert, beobachten wir eine Hinwendung des Konsumenten zum eigenen privaten Bereich - Haus und Garten werden in den Blick genommen und mit entsprechenden Käufen aufgewertet. Einen Boom hat auch die Fahrradbranche erfahren, besonders E-Bikes sind stark nachgefragt. Auch hier darf angenommen werden, dass der Corona - bedingte Ausfall von Fernreisen und anderen Urlaubsplänen die sportliche Aktivität vor Ort befeuert hat.

Die Kurzarbeit scheint bislang Stellenstreichungen verhindert zu haben. Lässt sich dennoch bereits absehen, wo und in welchen Bereichen Arbeitsplätze wegfallen?
Eine große Entlassungswelle ist in unserer Region ausgeblieben. Im Gegenteil, durch den Schweizer Einkaufstourismus haben gerade die größeren Geschäfte und der Einzelhandel in den Einkaufszentren viel zu tun und suchen eher Personal, als dass sie Stellen streichen. Vereinzelt sieht das bei Geschäften in den Innenstädten etwas anders aus. Sie warten nach wie vor auf ihre Kunden. Von einer Entlassungswelle kann aber auch hier keine Rede sein. Kritischer ist die Situation in der Industrie, wo in der Kurzarbeit, je länger sie praktiziert wird, ein um so größeres Potenzial drohenden Arbeitsplatzabbaus liegt. Mit einer Verlängerung des Kurzarbeitergeldes unter erleichterten Bedingungen in 2021 ("Beschäftigungssicherungsgesetz") ist die Gefahr, dass sich dieses Risiko realisiert, weiter eingedämmt, aber keinesfalls endgültig gebannt.
Auch in den Innenstädten kann noch keine Entwarnung gegeben werden. Die Corona-Krise, die Folgen des Lockdowns und die - ganz unabhängig davon schon seit Jahren wachsende - Online-Konkurrenz setzen den stationären Einzelhandel in den Innenstädten unter Druck. Damit dort Arbeitsplätze gesichert werden, müssen sich die Städte gerade jetzt und mehr denn je mit ihren Zentren befassen. Die große Herausforderung der Stadtentwicklung in den kommenden Jahren ist, die vitalen Funktionen einer Stadt als Marktplatz, als kulturelles Zentrum, als Ort eines breiten Dienstleistungsangebots, der Kommunikation und des sozialen Miteinanders zu erhalten und zu stärken. Wir leben in einer Zeit, in der es für alle genannten Funktionen einer Stadt digitale Alternativen gibt - vom Onlineshopping und Onlinebanking über die digitale Verwaltung bis zur Versorgung durch Lieferdienste und zum Streaming kultureller Inhalte. Nahezu alle Bedarfe des Alltags lassen sich stadtfern organisieren - die Stadt, die über Jahrhunderte gleichsam ein Monopol hatte als Marktplatz im weitesten Sinne, ist genau mit dieser Funktion "optional" geworden: man kann sie nutzen, muss aber nicht.
Wer diese Entwicklung ignoriert, wird mit Leerständen und dem Verlust von Arbeitsplätzen in den Innenstädten rechnen müssen. Es hängt an den Kommunen und am Handel vor Ort, wie der digitale Strukturwandel und das durch Corona veränderte Einkaufs- und Freizeitverhalten der Konsumenten für sie ausgehen wird. Die Innenstadt leidet als Ort der Freizeitgestaltung darunter, dass Menschen durch die Corona-Krise um ihre Arbeit fürchten oder kurzarbeiten und ihr Geld zusammenhalten. Hinzu kommt, dass das Einkaufen mit Mundschutz und Mindestabstand das Aufenthaltserlebnis trübt, und auch die Angst vor Ansteckung ist bei vielen Menschen noch immer ein Grund, warum sie Geschäfte, die sie nicht aufsuchen müssen, noch meiden.
Der Onlinehandel gehört dagegen zu den Gewinnern der Krise. Nicht wenige Kunden, die zuvor in die Innenstädte gingen, haben sich an das Online-Shopping gewöhnt und manche werden vielleicht nicht oder nicht sogleich wieder zum stationären Einzelhandel zurückkehren. Dieses Problem zu lösen, ist das Gebot der Stunde.

Müssen sich die Unternehmen in der Region darauf einstellen, dass grundsätzlich weniger Kunden aus der Schweiz kommen oder handelt es sich um ein temporäres Phänomen?
Wann und ob der Handel wieder das Umsatz-Niveau vor der Pandemie erreichen wird, ist ungewiss, zumal der Einkaufstourismus bereits vor Corona im Sinkflug war: Während im Bereich der Hauptzollämter Singen und Lörrach im Jahre 2016 noch 17,6 Millionen Ausfuhrbescheinigungen testiert wurden, waren es 2018 nur noch 15,85 Mio und 2019 nur noch 15,59 Mio. Bereits deshalb wird es keine vollständige Rückkehr zum status quo ante geben.
Die Händler bemühen sich mit unterschiedlichen Strategien, die heimische und die Schweizer Kundschaft gleichermaßen zurückzugewinnen. Dazu zählen auch Preissenkungen, wo etwa lagernde Ware dringend verkauft werden muss, wie zum Beispiel in Bekleidungsgeschäften, die wegen des Lockdowns noch auf der Frühjahrskollektion sitzen. Um die Menschen zu motivieren, wieder in die Innenstädte und ihre Geschäfte zu gehen, werden auch mit (Park-)Gutscheinen, Rabatten oder Zusatzangeboten Kaufanreize geschaffen. Lebensmittelhändler setzen beispielsweise auf Warenbündel zum kleinen Preis oder auf wechselnde Angebote im Nebensortiment. Alle diese Aktionen zielen aber nicht primär auf die Kundschaft aus der Schweiz, sondern generell auf die Wiederbelebung eines unterbrochenen Marktes und auf das Vertrauen der Menschen in einen risikolosen Aufenthalt in den Innenstädten, den Geschäften und Centern.

Wie wird versucht, diesen negativen Tendenzen entgegenzuwirken?
Damit die Kunden die Innenstädte wieder als gleichermaßen sicheren wie attraktiven Aufenthaltsort wahrnehmen, hat die IHK Hochrhein-Bodensee mit der Projektgruppe "Einkaufsstandorte stabilisieren" eine Initiative gestartet. Gemeinsam mit den Kommunen, Gewerbevereinen, Wirtschaftsförderern, Händlern und Gastronomen werden Strategien zur Innenstadtentwicklung erarbeitet. Weil sich die Herausforderungen gleichen, unterstützen sich die Städte gegenseitig, vernetzen sich untereinander und tauschen Strategien und Erfahrungen, Erfolge und Misserfolge aus. Was wirkt, kann so schneller implementiert werden, Fehler werden nicht an anderer Stelle wiederholt. Dass der Ansatz überzeugt, lässt sich an der Teilnehmerliste ablesen. Mit dabei sind Bad Säckingen, Konstanz, Singen, Waldshut-Tiengen, Rheinfelden, Radolfzell, Lörrach, Schopfheim, Engen, St. Blasien, Stockach und Wehr - und damit (fast) die ganze Region.
Die erste Phase der Projektgruppe ist inzwischen abgeschlossen. Gemeinsam wurde ein Leitfaden mit Maßnahmen zur Innenstadtentwicklung entwickelt. Jede Stadt kann sich aus diesem Leitfaden die für sie opportunen Maßnahmen herauspicken. Auch, weil die Rückmeldungen dazu so positiv waren, wird die Projektgruppe "Einkaufsstandorte stabilisieren" - über unsere ersten Planungen hinaus – fortgeführt.
Wir starten in die zweite Phase mit einer offenen Onlinekonferenz mit dem Titel „Standorthelden“. Sie findet am 21. Oktober statt. Weitere Infos hier:
https://www.konstanz.ihk.de/system/vst/1686752?id=353494

Wie stark wirken sich generell die weiterhin gültigen Corona-Beschränkungen auf die Wirtschaft aus – etwa Abstandsregelungen, Zugangsbeschränkungen in der Gastronomie, Mund-Nasen-Schutz? Gibt es Probleme bei der Einhaltung der Regeln?
Von Problemen wird uns wenig berichtet. Die Geschäfte sind gut gerüstet, keiner möchte eine erneute Schließung riskieren. Auch das Einkaufspublikum selbst tritt so diszipliniert auf, dass die wenigen Verstöße regelmäßig schon unter den Kunden besprochen und gelöst werden, noch bevor ein Ladeninhaber überhaupt intervenieren müsste. Die mediale Aufmerksamkeit, die sog. Corona-Verweigerer oder Leugner und ihre Aktionen und Demonstrationen auf sich ziehen, verstellt den Blick darauf, dass eine überwältigende Mehrheit der Menschen mit großem Verständnis, mit Loyalität und aktiver Kooperation dazu beiträgt, die Pandemie einzudämmen und ein Höchstmaß an Normalität im wirtschaftlichen und sozialen Alltag zu implementieren.
Dessen ungeachtet sind die Hygiene- und Abstandsregeln dem Einkaufsvergnügen nicht dienlich und schränken Handlungs- und Gestaltungsspielräume ein. Das Thema wird uns in der Weihnachtszeit noch etwas mehr beschäftigen. Zwar sind die Händler für das Weihnachtsgeschäft gut aufgestellt und verfügen über Abstands- und Hygienekonzepte, um deutlich mehr Kunden zu bedienen, aber wichtige Frequenzbringer wie Weihnachtsmärkte wird es in diesem Jahr nicht geben. Alle kennen das alljährlichem dichte Gedränge zwischen Glühweinständen, Würstchenbuden und Holzspielzeug. Niemand möchte riskieren, dass Weihnachtsmärkte zu Corona-Hotspots werden, weil Hygiene- und Abstandsregeln dort nicht umsetzbar sind.

Wie schätzt die IHK generell die Perspektiven ein – ist auf absehbare Zeit mit einer Verbesserung der wirtschaftlichen Gesamtsituation zu rechnen?
Wir erwarten eine sukzessive Rückkehr zur Normalität - auch des Einkaufstourismus in unserer Region. Seine ökonomischen Treiber - das Lohngefälle und das vergleichsweise niedrige Niveau der Einzelhandelspreise auf deutscher Seite, der attraktive Wechselkurs und die Rückerstattung der Umsatzsteuer bei der Ausfuhr, die Breite und die Qualität des Angebots in unseren Städten und nicht zuletzt die Aufenthaltsqualität in den historischen Zentren - sind unverändert ausschlaggebend für das Konsumverhalten, daran hat sich auch mit Corona nichts geändert.
Aber: Der Onlinehandel wird wie vor Corona dem stationären Einzelhandel weiter zusetzen. Deswegen gilt: Je mehr wirtschaftliche, gesellschaftliche und soziale Funktionen eine Innenstadt abbilden kann, desto sicherer und stabiler wird sie sich in einer zunehmend digital organisierten Welt behaupten. Menschen sind einerseits bequem - weshalb sie Orte meiden, die schwer erreichbar sind und/oder keinen angenehmen Aufenthalt versprechen; Menschen sind aber andererseits auch soziale Wesen, die den Kontakt mit anderen pflegen, sich austauschen, treffen, feiern und vergnügen wollen. All diese Dinge leistet eine virtuelle Welt nur rudimentär. Darin liegt die Chance der (Innen-)stadt. Eine kluge Stadtentwicklung greift beide Bedürfnisse auf - die Bequemlichkeit und das Bedürfnis nach Gemeinschaft - und hat auf beide eine Antwort.