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„Wer die Entwicklung ignoriert, wird mit Leerständen rechnen müssen“

Im Interview berichtet IHK-Hauptgeschäftsführer Claudius Marx, wie es dem Handel nach dem Lockdown geht und was auch seiner Sicht notwendig ist, damit wir auch in Zukunft lebendige Innenstädte haben.

Wie geht es dem Handel nach dem Lockdown in der Region Hochrhein-Bodensee?
Wir sind immer davon ausgegangen, dass die Umsätze im Handel nicht von heute auf morgen wieder auf das Vor-Corona-Niveau steigen und die Rückkehr der Kunden aus der Schweiz ein schrittweiser Prozess sein würde. Und so ist es auch gekommen. Die Nachfrage konzentrierte sich erst einmal auf die Dinge des täglichen Bedarfes - Schuhe, Textil, Luxusgegenstände und größere Anschaffungen konnten offenbar noch etwas warten. Die Entwicklung insgesamt tendiert jedoch in eine gute, positive Richtung. Die Attraktivität des regionalen Angebots, die Markenvielfalt und die nach wie vor markanten Preisdifferenzen nebst Umsatzsteuererstattung haben ihre Wirkung nicht verloren. Dennoch wäre es zu kurz gesprungen, anzunehmen, alles wäre wieder gut, nur, weil die Grenzen zur Schweiz wieder offen sind. Die entgangenen Umsätze durch den Lockdown sind für viele Händler sehr hart, für manche existenzbedrohend. Wir haben in unserer Region aber das Glück, dass wir nicht nur für die Schweizer Kundschaft attraktiv sind, sondern auch für viele andere Touristen. Beide sorgen neben der heimischen Bevölkerung dafür, dass es dem Handel bei uns weniger schlecht geht, als in anderen Teilen Deutschlands.

Der Einzelhandel befindet sich seit Jahren in einem Strukturwandel. Beschleunigt die Corona-Krise diese Entwicklung?
Die Corona-Krise hat einige Entwicklungen deutlich beschleunigt. So gehört der Onlinehandel zu den Gewinnern der Krise und hat durch den Lockdown einen ordentlichen Schub bekommen. Nicht wenige Kunden, die zuvor in die Innenstädte gingen, haben sich an das Online-Shopping gewöhnt und manche werden vielleicht nicht oder nicht sogleich wieder zum stationären Einzelhandel zurückkehren. Es zeigt sich auch, dass es nicht mehr reicht, einfach eine Verkaufsfläche mit Waren anzubieten. Der stationäre Einzelhandel muss seinen Kunden etwas bieten, das sie online nicht bekommen - Aufenthaltsqualität, Beratungsleistung, positiv besetzte Einkaufserlebnisse, die über das bloße Besorgen einer Ware hinausgehen. Viele Städte arbeiten bereits an neuen Konzepten, um ihre Innenstädte zu beleben, was aktuell mit Abstands- und Hygienevorschriften eine besondere Herausforderung ist.


Wie schätzen Sie die Zukunft des innerstädtischen EinzeIhandels und der Innenstädte insgesamt ein?
Das ist von Ort zu Ort unterschiedlich. Die Lage und die Erreichbarkeit sind wichtig, aber natürlich auch das Angebot und darüber hinaus muss sich jede Stadt die Frage stellen: Welche Attraktionen kann ich den Kunden außerdem bieten? Wer die Entwicklung ignoriert, wird mit Leerständen in den Innenstädten rechnen müssen. Es hängt nun an den Kommunen und dem Handel vor Ort, wie der Strukturwandel für sie ausgehen wird.
Um die Städte bei dieser schwierigen Aufgabe zu unterstützen, hat die IHK Hochrhein-Bodensee mit der Projektgruppe "Einkaufsstandorte stabilisieren" eine Initiative gestartet, um gemeinsam mit den Kommunen, Gewerbevereinen, Wirtschaftsförderern, Händlern und Gastronomen Strategien zur Innenstadtentwicklung zu erarbeiten. Dabei geht es darum, die heimische und die Schweizer Kundschaft gleichermaßen zurückzugewinnen. Um die Menschen zu motivieren, wieder in die Innenstädte und ihre Geschäfte zu gehen, braucht es kreative Konzepte. Neben (Park-)Gutscheinen, Rabatten oder Zusatzangeboten müssen zusätzliche Kaufanreize geschaffen werden. Alle diese Aktionen zielen auf die Wiederbelebung eines unterbrochenen Marktes und auf das Vertrauen der Menschen in einen risikolosen Aufenthalt in den Innenstädten, den Geschäften und Centern.
Es wird aber mehr brauchen, um auch künftig vielfältige und lebendige Innenstädte zu erhalten und deswegen haben wir dieses Projekt gestartet. Die vitalen Funktionen einer Stadt als Marktplatz, als kulturelles Zentrum, als Ort eines breiten Dienstleistungsangebots, der Kommunikation und des sozialen Miteinanders zu erhalten und zu stärken, ist die große Herausforderung der Stadtentwicklung in den kommenden Jahren - in einer Zeit, in der es für alle diese Funktionen digitale Alternativen gibt - vom Onlineshopping und -banking über die Versorgung durch Lieferdienste bis zum Streaming kultureller Inhalte. Eine erfolgreiche Einzelhandels- und Gastronomieszene kann und muss hier immer nur ein Baustein in einem koordinierten Gesamtkonzept sein, an dem sich die politischen Entscheidungsträger und wirtschaftlichen Akteure ebenso beteiligen müssen wie die Kulturschaffenden und - nicht zuletzt - die Einwohner.
Im besten Fall erlangt eine Innenstadt so einen eigenen Charakter, einen authentischen Auftritt, der den Besuch zu einem einzigartigen, unverwechselbaren und bleibenden Erlebnis werden lässt. Zum bloßen "Erledigen von Geschäften", das in der Tat zunehmend online gelingt, muss der Aufenthalt in der Innenstadt als Teil der persönlichen Lebensgestaltung kommen. Dazu kann eine gute Gastronomie ebenso beitragen wie etwa ein Wochenmarkt auf einem historischen Platz.

Die Innenstädte müssen also ganz neu gedacht werden?
Die Innenstadt hat ihre quasi monopolistische Versorgungsfunktion verloren. Alles, was man braucht, bekommt man heute optional auch stadtfern oder online. Und dennoch ist die Innenstadt nicht abgeschrieben, im Gegenteil. Umfragen zeigen deutlich, dass für Menschen lebendige Innenstädte entscheidend sind, wenn es um die Wahl des Wohnortes geht.
Wer heute eine Innenstadt lebendig halten will, braucht einen Mix aus Frequenzbringern (dazu gehören z.B. auch Ärztehäuser und Kitas), Handel und Gastronomie. Gleichzeitig rückt das Thema Freizeitgestaltung weiter in den Mittelpunkt. Die Menschen brauchen heute gute Gründe, um in die Innenstadt zu gehen. Ohne Attraktionen für Senioren, Jugendliche, Kinder und Familien wird es nicht gehen.
Dass Arbeiten und Wohnen wieder näher zusammenrücken, dass Wohnen in der Stadt nicht als die a priori schlechtere Alternative gesehen wird, sondern als moderner, urbaner Lifestyle, ist eine große Chance, die in der Stadtentwicklung genutzt werden kann. Je mehr wirtschaftliche, gesellschaftliche und soziale Funktionen eine Innenstadt abbilden kann, desto sicherer und stabiler wird sie sich in einer zunehmend digital organisierten Welt behaupten. Menschen sind einerseits bequem - weshalb sie Orte meiden, die schwer erreichbar sind und/oder keinen angenehmen Aufenthalt versprechen; Menschen sind aber auch soziale Wesen, die den Kontakt mit anderen pflegen, sich austauschen, treffen, feiern und vergnügen wollen. All diese Dinge leistet eine virtuelle Welt nur rudimentär. Eine kluge Stadtentwicklung greift beide Bedürfnisse auf - die Bequemlichkeit und das Bedürfnis nach Gemeinschaft.