Coronavirus

„Es gibt weitaus bessere Gründe für Hoffnung als für Hoffnungslosigkeit“

Wie geht es der Wirtschaft zum Jahresbeginn? Darüber und ob die Politik alles richtig gemacht hat, haben wir mit Claudius Marx, Hauptgeschäftsführer der IHK Hochrhein-Bodensee gesprochen.
Harter Lockdown, Kontaktbeschränkungen, Ungewissheit: Wie ist derzeit die Stimmung bei Industrie und Handel?
Gedämpft. Das hat viel damit zu tun, dass wir in der zweiten Jahreshälfte 2020 mit allen Maßnahmen hinter der Entwicklung hergelaufen sind. Das hat dazu geführt, dass die Erwartungen immer wieder nach unten korrigiert werden mussten - statt der versprochenen Entspannung folgte auf den weichen Lockdown der harte, statt Weihnachtsmarkt und Feiertagslockerungen gab es Geschäftsschließungen und Ausgangsbeschränkungen. Dieses sukzessive Erkennen einer sich trotz aller Bemühungen verschärfenden Lage schlägt auf die Stimmung; Pläne müssen ständig geändert, der Alltag umorganisiert werden. So entsteht bei vielen der Eindruck, es gehe nicht auf-, sondern immer weiter abwärts.
Tatsächlich sieht es aber in weiten Teilen der Wirtschaft anders aus, nicht nur, weil Industrie und verarbeitendes Gewerbe die Produktion mit hocheffizienten Hygienekonzepten aufrechterhalten konnten. Auch die Mehrheit der aktuell von Schließungen und mangelnder Nachfrage betroffenen Unternehmen geht davon aus, dass sich die Lage nach dem Winter wieder deutlich entspannen wird. Die verschärften Maßnahmen, das kommende Frühjahr und die gestarteten Impfungen stützen diese Erwartung. Auch Wirtschaftsforschungsinstitute haben erneut bekräftig, dass 2021 mit einem Aufschwung gerechnet werden darf. Es gibt weitaus bessere Gründe für die Hoffnung als für die Hoffnungslosigkeit.

Vielen Unternehmen verzeichnen massive Umsatzeinbrüche. Wie hoch ist die Gefahr einer Pleitewelle?
Der hiesige Einzelhandel hatte große Hoffnungen in das Weihnachtsgeschäft gesetzt, zumindest einen Teil der Ausfälle aus dem ersten Lockdown wieder aufholen zu können. Der Dezember zählt mit dem Weihnachtsgeschäft zu den umsatzstärksten Monaten überhaupt. Über 20 Prozent liegt der Anteil des Weihnachtsgeschäfts am Gesamtjahresumsatz, in einzelnen Branchen wie Spielwaren, Bücher, Uhren oder Schmuck noch deutlich höher. Nachdem dieser Umsatz nun ausgefallen ist, stehen viele, vor allem kleinere Unternehmen am Rande ihrer Leistungsfähigkeit. Dass wir bislang noch keine auffallende Zahl von Insolvenzen sehen, hat auch damit zu tun, dass das einschlägige Insolvenzrecht geändert wurde, um eben dies zu vermeiden. An der tatsächlichen wirtschaftlichen Lage der betroffenen Unternehmen ändert dies freilich nichts.
Wir müssen deshalb unter allen Umständen verhindern, dass auf die zweite Infektionswelle eine Insolvenzwelle folgt. Die Konsequenzen wären weitreichender - und letztlich auch teurer -, als man zunächst denkt. Menschen verlören ihre Arbeit, Jugendliche ihre Ausbildung, den Kommunen fehlte die Gewerbesteuer und die Innenstädte verödeten mit zunehmendem Leerstand sukzessive. Ein solcher Prozess wäre nur sehr schwer wieder umkehrbar. Die Erfahrung zeigt, dass notleidende Innenstädte häufig in eine Negativspirale geraten: Leerstand mindert Attraktivität, was weiteren Leerstand schafft usw. Eine solche Entwicklung wäre wesentlich teurer als die jetzt notwendige Unterstützung.

Was sollte die Politik tun, um den betroffenen Unternehmen zu helfen?
Das wichtigste ist, dass die Unternehmen in der aktuellen Lage nicht allein gelassen werden. Sie müssen ihre Fixkosten decken und ihre Liquidität aufrechterhalten. Das geht nur mit finanziellen Hilfen, die schnell ihr Ziel erreichen. Mit den erweiterten Hilfspaketen - insbesondere November- und Dezemberhilfe, Überbrückungshilfe III und mit der so genannten Neustarthilfe - kann vielen Betroffenen geholfen werden. Leider zieht sich die Auszahlung der dringend benötigten Gelder immer weiter hinaus, und für viele Betroffene – gerade diejenigen mit geringen betrieblichen Fixkosten – tun sich weiterhin Lücken auf.
Es liegt in der Natur der Sache, dass Hilfsprogramme, die fast über Nacht entworfen wurden, nachgebessert werden müssen, wenn sich in der Praxis solche Lücken zeigen. Es ist Aufgabe der Kammern und Verbände, ihrerseits dieses Feedback schnell und aussagekräftig an die Politik gelangen zu lassen. Diese Kommunikation funktioniert, auch dank unseres engagierten Ehrenamtes gut und unsere Ansprechpartner sind dafür offen. Ein Beispiel ist die mögliche Abholung online bestellter Waren, die zunächst unterbunden wurde und jetzt möglich ist.

Viele Wissenschaftler warnten vor einer zweiten Welle. Hätte die Politik im Sommer Vorbereitung für den Herbst treffen müssen?
Es empfiehlt sich in dieser Zeit, kritisch mit all den "Hätte - Experten" umzugehen. Das sind die, die uns gerne heute ex post erklären, was man vor wieviel Monaten hätte machen müssen, damit es anders gekommen wäre, die es allerdings damals leider auch nicht besser wussten. Solcherlei Kritik ist wohlfeil in einer Pandemie, die keiner von uns vorhergesehen und keiner schon einmal durchlebt hat. Kurzum: Im Nachhinein nach Versäumnissen zu suchen, ist wenig hilfreich. Dieses Pandemie-Management ist für alle eine neue Disziplin, Prognosen sind unsicher, Wirkungszusammenhänge oft nur Vermutungen und also passieren Fehler. Das zeigt nicht zuletzt der Ländervergleich. Was der Kritik würdig wäre, wäre allein, aus den eigenen Fehlern und denen anderer nicht zu lernen.
Der aktuelle Stand lautet danach in aller Kürze: im ersten Halbjahr 2020 vieles richtiggemacht, im Sommer fahrlässig auf dem Erfolg ausgeruht, im Herbst dafür bitter gebüßt. Was es jetzt braucht, ist ein konsequenter Kampf gegen steigende Infektionszahlen und Sterberaten, kein halbherziges Hin und Her und auch kein bürokratisches Puzzlespiel von tausend Regeln und abertausend Ausnahmen. Kurz, beherzt und wirksam - das muss der Maßstab sein, sowohl für die Beschränkungen als auch für die Hilfen. Wer zugunsten der Allgemeinheit leidet, hat auch einen Anspruch gegen diese Allgemeinheit auf Entschädigung. Wo es dagegen keinen sachlichen Grund für Restriktionen gibt - wie etwa im kleinen Grenzverkehr zu unseren Nachbarkantonen -, sollte die volle Bewegungsfreiheit so bald wie möglich wiederhergestellt werden. Und wo der Wirtschaftsverkehr von strengen Hygienekonzepten begleitet wiedereröffnet werden kann, muss dies - so spät wie nötig, aber auch so früh wie möglich - auch erfolgen.

Was muss Ihrer Ansicht nach geschehen, damit sich die Lage langfristig entspannt?
Die Infektionszahlen müssen nach unten. Solange sie auf hohen Niveau stagnieren, sehen wir keine nachhaltige Entspannung. Das entscheidende Ziel für 2021 ist, nicht in einen Jo-Jo-Effekt von Restriktionen, Befreiungen und erneuten Restriktionen zu verfallen. Große Hoffnungen setzt die Wirtschaft deswegen auf eine flächendeckende "Herden-" Immunität der Bevölkerung durch eine Impfung. Erst wenn das Virus sich nicht mehr weiter ausbreiten kann, wird sich die Lage langfristig entspannen und die Unternehmen haben wieder Planungssicherheit. Die Menschen werden dann zu gewohntem Konsum zurückkehren, Nachholeffekte werden das Wirtschaftswachstum zusätzlich befeuern.

Wie lange können die Unternehmen noch durchhalten?
Natürlich gilt: je länger die Auswirkungen der Pandemie andauern, desto schwerer trifft es die Wirtschaft. Deswegen ist es ja so wichtig, dass EU und Bundesregierung nun alles daransetzen, dass genügend Impfstoff vorhanden ist, und dass der dann auch schnell und effizient verimpft werden kann. Solange Unternehmen keine Planungssicherheit haben, solange die Menschen in Ungewissheit leben, wie es weitergeht, solange leiden auch eine Wirtschaft und ein Industriestandort.
Die Gefahr langfristiger Nachteile für den Industriestandort sehen wir dennoch nicht. Im Gegenteil - es gibt einen Markt nach der Pandemie und dieser Markt wird eine erhebliche Nachfrage entfalten. Wer dann gut aufgestellt ist, kann davon profitieren. Eben deshalb ist es ja so wichtig, dass Belegschaften gehalten und Unternehmen vor der Illiquidität bewahrt werden. Das dafür ausgegebene Geld - sei es für die Kurzarbeit, sei es für die Hilfsprogramme - ist gut ausgegebenes Geld, eine Investition in die Zukunft.

Blick nach vorne: Optimistisch oder pessimistisch?
Darauf setzen in der Tat viele Unternehmen. Und diese Hoffnungen sind auch aus mehreren Gründen berechtigt. Zum einen hat uns schon der vergangenen Sommer gezeigt, dass die steigenden Temperaturen und ein Leben außerhalb von privaten Räumen auch das wirtschaftliche Leben befeuern, zum anderen gibt es nun zwei zugelassene Impfstoffe, weitere Anwärter auf Zulassung und den Start der Verimpfung. Und fast jede und jeder kann etwas nennen, was sie oder er coronabedingt aufgeschoben, aber nicht aufgehoben hat, sei es ein Urlaub, ein Familienfest oder eine größere Anschaffung. Es gibt also gute Gründe, optimistisch zu sein, vor allem aber, durchzuhalten.