Im Büro statt an Bord

Er sieht das Wasser vor sich und die Landschaft neben sich, er hört den Funk und die Geräusche der Motoren: Wer ein Schiff von einem Büro der Firma „Seafar“ aus führt, muss auf fast nichts verzichten, was er von Bord kennt – mit einer Ausnahme: den Arbeitszeiten. Mit seinem selbst entwickelten Fernsteuerungssystem will das Unternehmen dem Fachkräftemangel in der Schifffahrt begegnen.
Laut Green Deal der Europäischen Union soll das transportierte Volumen der Binnenschifffahrt bis 2030 um 25 Prozent, bis 2050 um 50 Prozent steigen. Das Problem: Schon jetzt gibt es nicht genug Personal, um die vorhandenen Schiffe zu führen, und die Lücke wird noch größer werden. Rund ein Drittel der meist männlichen Schiffsführer ist heute über 55 Jahre alt, und mit ausreichend Nachwuchs für die neu entstehenden Arbeitsplätze rechnet in der Branche niemand.
„Viele potenzielle Nachwuchs-Schiffsführer und -Schiffsführerinnen schrecken vor den langen Schichtzeiten von zwei bis drei Wochen an Bord zurück, in denen sie von zu Hause weg sind“, sagt Marc Holstein. Der 31-Jährige weiß, wovon er spricht. Der gelernte Speditionskaufmann und studierte Betriebswirt leitet die deutsche Niederlassung von Seafar. Das belgische Unternehmen beschäftigt derzeit sechs Schiffsführer, zumeist männlich und um die 30 Jahre alt. „Sie haben Häuser gebaut und Kinder bekommen, sie kommen morgens mit dem Rad zur Arbeit und fahren nach acht Stunden wieder nach Hause. Sie sind insgesamt weniger müde, konzentrierter und insgesamt entspannter als auf einem Schiff.“ Denn bei dem 2018 in Belgien gegründeten Unternehmen arbeiten die angestellten Kapitäne im Büro anstatt an Bord. Sie fahren die Binnenschiffe per Fernsteuerung. Damit das funktioniert, installiert Seafar auf den Schiffen Kameras und Mikrofone, Sensoren und Antennen. Das System greift auf Ruder und Antriebsmaschine zu, die Datenübertragung erfolgt über Mobilfunknetze – deren Zuverlässigkeit überprüft das Team im Vorwege.
Per Funk kann der Schiffsführer vom Büro aus mit den Kolleginnen und Kollegen an Bord kommunizieren. „So als wäre er im Steuerhaus“, erklärt Marc Holstein. „Es ist immer der Mensch, der die Entscheidung trifft. Nur, dass dieser Mensch an Land arbeitet.“ In Belgien, Holland und auf dem Rhein in Deutschland fahren bereits mehr als 40 Schiffe per Fernsteuerung, zwölf davon sind täglich im Betrieb. Die meisten sind zusätzlich zum Schiffsführer im Büro noch mit voller Besatzung an Bord unterwegs und müssen den lokalen Behörden erst beweisen, dass die Technologie funktioniert. Auf belgischen Wasserstraßen fahren bereits zehn Schiffe mit reduzierter Crew, zwei Schiffe sogar ohne eine einzige Person an Bord. „Das geht allerdings nur bei sogenannten Watertrucks, das sind hochautomatisierte Schubleichter, die nicht länger als 40 Meter sind“, sagt Holstein. „Bei konventionellen Schiffen und Koppelverbänden wird es auch langfristig nötig und richtig sein, zumindest eine kleine Crew an Bord zu haben.“ Da es keine allgemeingültige Gesetzgebung für die Fernsteuerung von Schiffen auf Wasserstraßen gibt, muss Seafar bei jeder Regulierungsbehörde gesonderte Anträge stellen: zum Beispiel bei den Wasserstraßen- und Schifffahrtsämtern. In Deutschland verfügt das Unternehmen bereits über erste Genehmigungen für drei Binnenschiffe auf dem Rhein. Ein weiteres Projekt liegt mit dem Elbe-Seitenkanal im Bezirk unserer IHKLW. Dort liefen bereits erste Testfahrten, und Seafar erwartet die Genehmigung für erste echte Fahrten spätestens Ende dieses Jahres. Mit dem Koppelverband „Niedersachsen 2“ und „Hannover 2“ will die HGK Shipping GmbH, Tochter der Häfen und Güterverkehr Köln AG (HGK), dann Ladung wie Kohle, Erz und Splitt von Hamburg nach Salzgitter bringen und andersherum – und dabei zwar zunächst noch die volle Besatzung auf dem ferngesteuerten Schiff mitfahren lassen. Nach einer Erprobungsphase und in Abstimmung mit den Behörden soll die Stärke reduziert werden. „Unser Ziel ist langfristig, den Schiffsführer in das Büro zu verlagern und eine reduzierte Crew aus Steuermann und Matrosen an Bord zu haben“, so Holstein. „Dabei geht es nicht um Stellenabbau, sondern darum, die Schiffe vor dem Hintergrund des Personalmangels überhaupt in Betrieb halten zu können.“ Seafar besitzt keine eigenen Schiffe, sondern stattet ausschließlich die Schiffe der Kundschaft mit ihrer Technologie aus. Das bedeutet: Wer wie die HGK Shipping heute schon die Technologie von Seafar kauft, geht ein erhebliches wirtschaftliches Risiko ein. „Das zeigt die Notlage, in der sich die Branche befindet“, bilanziert Holstein.
Mit dem selbst entwickelten Steuerungssystem bezeichnet sich Seafar als Pionier. Laut Holstein gebe es zwar wissenschaftliche Forschungsprojekte in Richtung autonomes Fahren, aber die kommerzielle Ausrichtung auf ferngesteuertes, personalreduziertes Fahren sei einmalig. Für die nächsten Genehmigungen stehen Projekte auf dem Mittellandkanal bei Hannover, der Süderelbe und im Hamburger Hafen in der Pipeline.
Carolin George
IHK Lüneburg-Wolfsburg
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