Das bisherige Verständnis von Nachhaltigkeit hat ausgedient

Eine vollkommene Kreislaufwirtschaft nach dem „Cradle to Cradle“-Prinzip erfordert ein komplettes Umdenken. In Lüneburg gibt es erste gute Ansätze dazu.
Nachhaltigkeit sei innovationsfeindlich, sagt Michael Braungart, Professor für Eco-Design an der Leuphana Universität Lüneburg. „Sie optimiert das Bestehende – aber so wird das Bestehende umso gründlicher falsch.“ Nachhaltigkeit sei kundenfeindlich, denn unter ihrem Label wird für Verzicht geworben, „wir denken, wir schützen die Umwelt, wenn wir sie etwas weniger zerstören, aber das reicht nicht“, so Braungart. Chemiker Braungart, der auch wissenschaftlicher Leiter des Hamburger Umweltinstituts ist, setzt sich seit zweieinhalb Jahrzehnten dafür ein, Produkte und Produktionsprozesse so zu gestalten, dass Verschwendung kein Problem ist – oder der Mensch sogar mit allem, was er tut und konsumiert anderen Stoffkreisläufen nutzt. Für seine Ideen und Verdienste auf dem Gebiet der Kreislaufwirtschaft wurde er 2022 mit dem Ehrenpreis des Deutschen Nachhaltigkeitspreises Design ausgezeichnet.
Ende der 90er-Jahre hatte er zusammen mit dem US-Architekten William McDonough das „Cradle to Cradle“-Konzept entwickelt. Der Name heißt übersetzt „Von Wiege zu Wiege“ und meint Produkte, die in zwei Stoffkreisläufen funktionieren – dem biologischen für Verbrauchsprodukte und dem technischen für Gebrauchsprodukte. In ihnen gibt es keinen unnützen Abfall, sondern ausschließlich nützliche Rohstoffe. Sein Prinzip soll für Innovation, Qualität und gutes Design stehen, alle Inhaltsstoffe sind chemisch unbedenklich und kreislauffähig. Etwa 1.000 Produkte weltweit sind aktuell zertifiziert, darunter ein Cashmere-Pullover von Ralph Lauren und ein Lautsprecher von Bang & Olufsen. Die Kriterien umfassen neben Kreislauffähigkeit und Klimaschutz den verantwortungsvollen Umgang mit Boden, Wasser, Materialgesundheit und soziale Gerechtigkeit.
In seinem Sinne und „sensationell“ findet Braungart Ansätze des Lüneburger Herstellers von Arbeitsschutz-Handschuhen UVEX. Carsten Baumgarten, Geschäftsführer der UVEX Safety Gloves Management GmbH & Co KG, sieht sein Unternehmen als „Fast Follower“ der „Cradle to Cradle“-Bewegung. Nachhaltigkeitsma­nagement spiele seit Jahren eine große Rolle, 2016 stellte das Werk am Standort Lüneburg mit grünem Strom auf CO2-Neutralität um, kürzlich wurde ein Blockheizkraftwerk für bessere Energieeffizienz angeschafft. Lösungsmittel werden seit 2012 nicht mehr genutzt, die komplizierte Polymer-Beschichtung der Handschuhe ist wasserbasiert. Für die hauseigene „Protecting Planet“-Produktserie wurden Hand­schuhe aus Bambusfasern und recyceltem Polyamid entwickelt, die einen reduzierten CO2-Fußabdruck haben und „unter strikten Anforderungen an Schadstoff- und Wassermanagement hergestellt wurden“, so Baumgarten. Die Träger*innen der 15 Millionen Handschuhe, die pro Jahr hergestellt werden, arbeiten beispielsweise in der Autoindustrie oder der Metallverarbeitung und müssten keinerlei ungesunde Auswirkungen auf ihre Haut fürchten. Nachhaltigkeitsaspekte versucht UVEX, kostenneutral zu bieten, da große Abnehmende nicht unbedingt bereit seien, dafür mehr zu bezahlen. Gebrauchte Handschuhe werden zurückgenommen und aufgearbeitet. „Aktuell testen wir neuartige Garne, die gegen Schnitte schützen, aber bei der Verwertung zerfallen“, so Baumgarten. Denn ein grundsätzliches Problem im Recycling ist, dass verarbeitete Stoffe oft nicht in ihre Einzelbestandteile zerlegt werden können.
Abfall von Anfang an vermeiden
Unter „Cradle to Cradle“-Gesichtspunkten (kurz C2C) sollten Materialien im Sinne einer vollkommenen Kreislaufwirtschaft direkt wiederverwendet werden können. „Es gibt viele Produkte, die als solche schon ,Cradle to Cradle’ sind, weil sie aus der Natur kommen“, so Leuphana-Professor Braungart. Gips beispielsweise, ein Mineral, das im Harz abgebaut wird und ohne Qualitätseinbuße unendlich oft wieder benutzt werden kann, solange er nicht mit anderen Materialien vermischt wird. „Abfall als Designerprinzip abzulegen bedeutet, Produkte, Verpackungen und Systeme von Anfang an unter der Voraussetzung zu konzipieren, dass Abfall überhaupt nicht vorkommt“, sagt Braungart. Also: statt energieintensivem Recycling lieber gleich auf Stoffe setzen, die kompostierbar sind und nach ihrer Nutzungszeit der Umwelt Nährstoffe zurückgeben.
2021 war in Lüneburg das Projekt „Neue Strategien und Strukturen für eine Cradle to Cradle Modellregion in Nordost-Niedersachsen“ der Landkreise Lüneburg und Lüchow-Dannenberg gestartet mit dem Ziel der Erarbeitung einer regionalen Innovations-, Transfer- und Nachhaltigkeitsstrategie. Kooperationspartner des durch Bundesgelder geförderten Projekts waren die Leuphana Universität, die Technische Universität Hamburg sowie die Wachstumsinitiative Süderelbe AG. Im April 2024 endete das Förderprogramm mit einem erarbeiteten Masterplan, 18 kleine und mittelständische Unternehmen aus der Region – darunter UVEX – waren in den vergangenen drei Jahren beraten und begleitet worden. Weitergeführt wird das Vorhaben nun im neu eröffneten C2C-Innovationslabor in Dannenberg vom Verein „Connect Circular“. Landrätin Dagmar Schulz ist zufrieden: „Die Cradle-to-Cradle-Modellregion zeigt, dass Innovationen und Nachhaltigkeitsstrategien auch im ländlichen Raum erfolgreich entwickelt werden können. Mit der Einrichtung eines Innovationslabors ist es uns gemeinsam gelungen, umsetzbare Ansätze zu etablieren und die Arbeit des Modellprojekts zu verstetigen.“
UVEX-Chef Baumgarten freut sich über das C2C-Netzwerk, über das er Personen „mit Textilfokus“ kennengelernt hat, die sich intensiv mit der Frage auseinandersetzen, wie ein Garn beim Recycling wieder in seine Einzelbestandteile zerlegt werden könnte. Nun hofft er auf weitere Kontakte zu Zulieferbetrieben und Entwickler*innen und konkrete Projekte.
Innovationsfeindliche Berichtspflichten
Eco-Design-Professor Braungart will sich weiter für ein grundsätzliches Umdenken einsetzen. „Für den bisherigen Ansatz, die Bedürfnisse der jetzigen Generation zu erfüllen, ohne den künftigen zu schaden, sind wir viel zu viele Menschen auf der Erde“, ist er überzeugt. Die steigenden Berichtspflichten für Unternehmen im Sinne der Nachhaltigkeit seien innovationsfeindlich, da in der Folge lediglich Bestehendes optimiert werde. Und: Auch recyceltes Plastik bleibt Plastik, das aus Erdöl gewonnen wurde, aber in der Praxis oft zu verschmutzt oder nicht mehr sortenrein trennbar sei, um zu Öl verwandelt zu werden.
Europa habe durch falsche Weichenstellungen den Anschluss verpasst, aber „nun haben wir 50 Jahre lang Weltuntergangsdiskussionen geführt, das können wir jetzt in Innovation umsetzen“, so Braungart. Er teilt Produkte in drei Kategorien ein: Verbrauchsgüter wie Shampoo oder Verpackungen – sie könnten aus biologischen Nährstoffen gefertigt werden. Gebrauchsgüter wie Autos enthalten seiner Definition nach „technische Nährstoffe“ – sie sollten lediglich als Service bereitgestellt werden und nach Ablauf ihrer Gebrauchszeit in ihre einzelnen Bestandteile zersetzt werden können. Die dritte Kategorie sind Güter, die nicht mehr zu vermarkten seien, etwa gefährlicher Abfall. Sie sollten laut Braungart so schnell wie möglich ersetzt werden.
Neue Geschäftsmodelle nötig
Dafür sind jedoch neue Geschäftsmodelle nötig. Qualitativ hochwertige europäische Produkte konkurrieren seit langem mit billigeren Kopien aus Fernost, die aber schnell kaputt gehen, so Braungart. Statt Wärmepumpen zu verkaufen, könnten Unternehmen das Recht auf Wärme verkaufen – der Hersteller behalte so sein Eigentum und verkaufe nur das Nutzungsrecht. Braungarts Hoffnung: Die Produkte werden möglichst wenig wartungsanfällig hergestellt – und die Kund*innen bekommen beste Qualität zu einem verlässlichen Preis. Erste Beispiele gebe es dafür bereits in Deutschland. Braungart ist überzeugt: „Wir werden eine Industrie nach der anderen verlieren, wenn wir unsere Wirtschaft nicht dementsprechend ändern.“  
UVEX macht es vor: Als nahezu einziges Unternehmen in Europa steht die Lüneburger Produktionsstätte mit ihren mehr als 200 Angestellten in Konkurrenz zu Fabriken in Fernost. „Wenn wir einfach ähnliche Handschuhe machen würden, gäbe es uns nicht mehr. Wir müssen es also anders machen: langlebiger, komfortabler, gesünder, passender, nachhaltiger“, so UVEX-Chef Baumgarten. „Wir veröffentlichen transparent die Details, das ist unser USP gegenüber den asiatischen Produkten.“ Das scheint auch über deutsche und europäische Grenzen hinaus zu funktionieren – größter Auslandsmarkt des Lüneburger Unternehmens ist Australien.  
Anne Klesse
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