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Wirtschaft wieder stark machen
IHKLW-Präsident Andreas Kirschenmann ist überzeugter Europäer – und kritischer Begleiter der EU-Politik. Er sagt: Europa muss als Wirtschaftsstandort wieder attraktiver werden und ruft dazu auf, bei der EU-Wahl die Möglichkeit zur Mitbestimmung zu nutzen.
Herr Kirschenmann, am 9. Juni sind 66 Millionen Deutsche ab 16 Jahren zur Europawahl aufgerufen. Sie machen sich dafür stark, dass auch unsere IHKLW für eine hohe Wahlbeteiligung sorgt. Warum ist Ihnen das so wichtig?
Seit Beginn des Ukrainekriegs ist einmal mehr deutlich geworden, wie wesentlich der Zusammenhalt in Europa für unsere Wirtschaft und für unsere Sicherheit ist. Dieser Zusammenhalt ist der Kern der europäischen Idee und diese Idee sollten wir stärken. Die EU-Wahl ist dafür eine Riesenchance – wenn wir denjenigen unsere Stimme geben, die einstehen für Demokratie und Frieden, für eine wettbewerbsfähige Wirtschaft und für Wohlstand und Stabilität auf unserem Kontinent.
Mir ist es wichtig, dass wir als regionale Wirtschaft auch unsere Mitarbeitenden ermutigen, an den Wahlen teilzunehmen. Es gilt, jede Chance zu nutzen, um die europäische Idee zu stärken. Weltoffenheit, Toleranz und grenzüberschreitender Austausch sind zentrale Werte unseres Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells, das auf Zusammenarbeit, Kreativität und Entfaltung basiert. Nur wenn sich Menschen bei uns wohlfühlen, werden sie zu uns kommen. Und nur so bleiben wir dauerhaft als Standort attraktiv. Eine politische Haltung, die auf Abschottung abzielt, gefährdet unseren Wohlstand.
Was macht Sie zu einem überzeugten Europäer?
Die Europäische Union fußt auf der Idee einer Zusammenarbeit für Frieden in Europa. Wie kann man davon nicht überzeugt sein? Noch heute profitieren wir alle bei Reisen von offenen Grenzen und einer einheitlichen Währung. Auch für Unternehmen sind wichtige Errungenschaften der EU essenziell – die politische Stabilität, einheitliche EU-Normen, der Zugang zu europäischen Märkten und die Fachkräftegewinnung aus anderen EU-Mitgliedsstaaten. Die Ursprungsidee der Wirtschaftsunion zahlt sich in unserer globalisierten Welt einmal mehr aus. Die europäischen Länder haben im Verbund deutlich mehr Gewicht, um beispielsweise Handelsabkommen zu guten Konditionen abzuschließen, als einzelne Staaten. All das macht mich zu einem überzeugten Europäer. Gleichzeitig bin ich ein kritischer Begleiter der europäischen Wirtschaftspolitik.
Welche Themen haben Sie besonders im Blick?
Europa droht im internationalen Wettbewerb an Boden zu verlieren. Das zeigt auch das IHK-Unternehmensbarometer zur Europawahl, für das Antworten von 3.000 Unternehmen aus ganz Deutschland ausgewertet wurden: Für zwei Drittel der deutschen Industriebetriebe ist die Attraktivität der EU als Unternehmensstandort in den vergangenen fünf Jahren gesunken. Über alle Branchen hinweg spüren 56 Prozent eine gesunkene Attraktivität. Dieser Trend muss umgehend gestoppt werden!
Immer wieder kritisieren Unternehmen die Bürokratielasten, die die EU ihnen auferlegt. Wäre das ein Ansatzpunkt?
Unbedingt! Das ist vielleicht sogar der entscheidende Ansatzpunkt. Das Regulierungsdickicht wird immer größer, kostet Zeit, Geld und bindet Personal – von der Datenschutzgrundverordnung über das EU-Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz bis zum Green Deal. Damit die Betriebe mehr Ressourcen für eine klimagerechte Umgestaltung ihrer Geschäftsaktivitäten haben, muss die EU in der neuen Legislaturperiode konsequent Bürokratie abbauen. Die Entlastungen müssen für die Unternehmen zeitnah und konkret spürbar werden. Nur so kann Europa wieder ein attraktiver Standort für Unternehmen werden. Als zweiten Schwerpunkt der kommenden EU-Politik sehe ich – wie mehr als zwei Drittel der Unternehmer*innen im Unternehmensbarometer zur EU-Wahl –, dass die EU für eine sichere und bezahlbare Energieversorgung sorgen muss. Diese ist elementar für die Unternehmen und damit auch für die Arbeitsplätze in Europa.
Kürzlich wurde das Europäische Lieferkettengesetz im dritten Anlauf verabschiedet. Wie das deutsche Lieferkettengesetz gilt es für Unternehmen ab 1.000 Mitarbeitenden und 450 Millionen Euro Umsatz, ermöglicht aber auch eine zivilrechtliche Haftung von Unternehmen. Wie bewerten Sie das Gesetz?
Das Gesetz ist insgesamt kein gutes Signal und auch in seiner abgespeckten Version wenig praxistauglich. Für Unternehmen ist es eine große Belastung, weltweite Lieferketten und direkte sowie indirekte Geschäftspartner zu kontrollieren. Es ist zu befürchten, dass es zu einem Kaskadeneffekt kommt: Große Unternehmen werden die an sie gerichteten Anforderungen an ihre kleinen und mittleren Lieferanten weitergeben. Kleine und mittlere Unternehmen haben aber oft nicht die finanziellen und personellen Ressourcen, um diese Anforderungen zu tragen. Kritisch sehe ich auch, dass Unternehmen für Sorgfaltspflichtverletzungen auch zivilrechtlich haftbar sind. Für die betroffenen Unternehmen bedeutet das Rechtsunsicherheit. Eine Folge könnte sein, dass Unternehmen sich aus wirtschaftlich wichtigen Regionen zurückziehen. Das ist gerade vor dem Hintergrund der angestrebten Diversifizierung von Lieferketten und Handelsbeziehungen kritisch zu bewerten. Insbesondere in Zeiten, in denen Politik und Wirtschaft das gemeinsame Ziel verfolgen, einseitige strategische Abhängigkeiten Europas etwa im Energie- und Rohstoffbereich zu reduzieren, sollten Unternehmen beim Ausbau ihrer Handelsbeziehungen unterstützt statt zusätzlich belastet werden.
Ihr persönlicher Appell: Warum sollte man zur Wahl gehen?
Weil es einen Neustart in der EU-Wirtschaftspolitik braucht. Wir müssen Europa wieder attraktiver für Unternehmen sowie die besten Fach- und Führungskräfte gestalten und die Wirtschaft in Europa wieder stark machen. Mit der Wahl haben wir die Möglichkeit, mitzuentscheiden, wer die Interessen der regionalen Wirtschaft im Europäischen Parlament vertreten soll. Diese Beteiligungsmöglichkeit sollten alle nutzen.
Sandra Bengsch
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