5 min
Lesezeit
So wirkt Europa in der Region
Unternehmen in Niedersachsen profitieren direkt von der EU. Nicht nur exportieren sie überwiegend in andere Mitgliedsländer, auch die vielen Fördermittel sind für ländlich geprägte Regionen wie unseren IHKLW-Bezirk enorm wichtig. Und wenn sich der Staatenverbund wieder auf die Ursprungsidee der Wirtschaftsgemeinschaft besinnen würde, ist der Lüneburger Unternehmer Dr. Rüdiger Kühl überzeugt, könnte die EU wieder als „Garant für Wachstum und Wohlstand“ gelten.
Dr. Rüdiger Kühl, Geschäftsführer der DE-VAU-GE Gesundkostwerk Deutschland GmbH: „Flut an Gesetzen und Verordnungen kaum zu durchdringen“
© tonwert21
Sie waren 2023 einer von 700 Unternehmer*innen im „Europäischen Parlament der Unternehmen“ und konnten Einblick in die Arbeit der EU-Institutionen bekommen. Herr Dr. Kühl, wie ging es weiter – wurden Ihre Anregungen gehört?
Bei unseren Abstimmungen ging es darum, zu schauen, wie die Unternehmer europäisch abstimmen. Wir waren trotz aller Unterschiedlichkeit in unseren Mitgliedstaaten bei allen Fragen sehr einig. Dabei waren auch assoziierte Mitgliedstaaten wie die Türkei dabei. Die europäische Wirtschaft ist sich also deutlich näher als die verantwortlichen Politiker in der Europäischen Union. Das hat mich beeindruckt. Aus dieser Erkenntnis ergibt sich eine große Chance.
Sollte diese Kraft der Einigkeit nicht viel besser genutzt werden?
Die heutige EU ist in den 1950er-Jahren als Wirtschaftsgemeinschaft gestartet. Wenn man sich auf diesen Kern besinnt, wieder mehr Wirtschaftsbezug herstellt und auch klarere und schnellere Entscheidungen trifft, könnte die EU wieder als Garant für Wachstum und Wohlstand gelten. Man müsste auch das Agenda-Setting überdenken, denn das Initiativrecht liegt fast ausschließlich bei der Kommission und dem Europäischen Rat, nicht aber beim direkt gewählten Parlament.
Welche aktuellen EU-Gesetzesvorhaben beschäftigen Sie derzeit, die konkreten Einfluss auf Ihr Geschäft hätten?
Sehr viele EU-Vorhaben haben aktuell Einfluss auf unser aller Leben, vor allem der „Green Deal“ und die Finanzierungsvorhaben, die damit verbunden sind. Die Lieferkettenrichtlinie ist durch ihre Formulierungen so weit gefasst, dass sie für einen Mittelständler gar nicht umsetzbar ist. Die Flut an Gesetzen und Verordnungen ist für uns Unternehmer kaum zu durchdringen. Nicht jedes Unternehmen hat Rechtsanwälte, die jede mögliche Auswirkung vorab prüfen können. Das ist komplett an der Realität vorbei. Für die Entbürokratisierung hat Deutschland mal Edmund Stoiber nach Brüssel entsendet – das hat offensichtlich nicht viel gebracht. Gleichzeitig haben wir noch keinen intakten, voll umgesetzten Binnenmarkt. Beispielsweise haben die Niederlande schärfere lebensmittelrechtliche Anforderungen als die EU. Das muss dringend vereinheitlicht werden.
Karin Beckmann, Landesbeauftragte beim Amt für regionale Landesentwicklung: „EU-Fördermittel nicht durch Landesmittel ersetzbar“
Frau Beckmann, für Niedersachsen stehen in den EU-Förderfonds bis 2027 mehr als eine Milliarde Euro zur Verfügung. Für wen ist das interessant?
Innerhalb dieser Strukturfonds der Europäischen Union gibt es unterschiedliche Förderprogramme – in Richtung Innovationsfähigkeit, aber auch der Fachkräftesicherung oder der ökologischen Transformation. Gerade die betriebliche Investitionsförderung des Landes speist sich aus unterschiedlichen Töpfen – europäischen und Mitteln der Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur. Für Unternehmen spielt das faktisch häufig keine Rolle. Der Landkreis Lüchow-Dannenberg zum Beispiel gilt als strukturschwache Region, in der die Förderbedingungen etwas breiter gefasst sind und nicht nur kleine und mittlere Unternehmen, sondern auch große gefördert werden können. Anforderungen sind immer ein gewisser Grad an Innovation und die Schaffung von Arbeitsplätzen. Betriebliche Investitionen können überall gefördert werden, wenn sie außerdem CO2-reduzierende Effekte haben.
Die Bedingungen für viele EU-Fördermittel haben sich 2023 geändert. Lohnt sich der Aufwand, Gelder zu beantragen?
Vor Investitionen ist es ratsam, bei der kommunalen Wirtschaftsförderung oder der NBank nachzufragen. Je nach Unternehmensgröße, Vorhaben und Region gibt es Zuschüsse zwischen zehn und 60 Prozent der Investitionskosten. Insbesondere, wenn Ressourceneffizienz und Klimaschutz auf der Agenda stehen, lohnt es sich auf jeden Fall. Eine gute Vorab-Beratung ist empfehlenswert. Mit EU-Mitteln unterstützt werden Beratungsgespräche, wenn es um Wissens- und Technologietransfer wie Digitalisierung und Energieeffizienz geht.
Wie wichtig sind die Fördermittel für den IHKLW-Bezirk?
Ein großer Teil der Region ist ländlich geprägt. Hier stehen gewerbliche Betriebe und Handwerksunternehmen im Bereich von Innovation, Energiewende und Mangel an Fach- und Nachwuchskräften vor großen Herausforderungen. Genau dort setzen die Förderprogramme an. Insgesamt stehen zwischen 2021 und 2027 rund 400 Millionen Euro allein für Nordostniedersachsen zur Verfügung. Das hilft schon sehr und wäre nicht einfach durch Landesmittel ersetzbar.
Bernd Lange, MdEP und Vorsitzender des Handelsausschusses im EU-Parlament: „Wünsche mir häufigeren und früheren Dialog mit der Wirtschaft“
Herr Lange, wie erleben Sie den Austausch mit der Wirtschaft?
Niedersachsen hat eine extrem hohe Exportquote von 40 Prozent, Wohlstand und wirtschaftliche Entwicklung hängen von der Europäischen Union ab – 60 Prozent des Exports gehen in EU-Länder. Trotzdem ist das Bewusstsein, dass wir mit der EU-Gesetzgebung auch die Beziehungen unserer wichtigsten Märkte gestalten, noch ausbaufähig. Ich würde mir wünschen, noch häufiger und früher mit der Wirtschaft in den Dialog über Gesetzgebungsvorhaben und Beziehungen zu Partnerländern zu gehen. Ich erlebe es leider immer wieder, dass mich Stellungnahmen erreichen, wenn es schon zu spät ist.
Unternehmen sollten sich also stärker und früher einbringen. Bräuchte es dafür bessere Formate?
In der Tat. Hier in Brüssel arbeite ich sehr gut mit der Wirtschaft zusammen, aber regionale Formate müssten vielleicht gestärkt werden. Mit unserem globalen Blick hier in Brüssel fallen manchmal regionale Spezifika unter den Tisch. Oft sind spezielle Ausnahmeregelungen im Nachhinein nötig, die eigentlich frühzeitig im Dialog hätten geklärt werden müssen, um Problemlagen rechtzeitig zu identifizieren und sie entsprechend in die Gesetzesvorhaben einbringen zu können. Ich sehe es als gemeinsame Aufgabe, das besser zu koordinieren.
Trotz allem fühlt sich Europa für viele weit weg an – wo zeigt sich die EU konkret in unserer Region?
Wir profitieren von der Europäischen Union auf mehreren Ebenen: Neben Sicherheit und Freiheit jedes Einzelnen ist da vor allem die Wirtschaft. Man kann sehr deutlich in Großbritannien sehen, was es heißt, wenn es plötzlich Kontrollen, Zölle und unterschiedliche Standards gibt – das ist ein immenser wirtschaftlicher Nachteil, der sich auch auf die Bürgerinnen und Bürger auswirkt, beispielsweise in Produktpreisen. Durch die EU ist unser Marktzugang stabil, es gibt Handelsabkommen, Qualitätsstandards. Auch hinsichtlich der digitalen und grünen Transformation spielt Europa für uns eine entscheidende Rolle.
Anne Klesse
Kontakt