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Azubis begeistern, Fachkräfte entwickeln
Warum eine Ausbildungsgarantie nicht gegen den Azubimangel hilft, welche Erleichterungen das Fachkräfteeinwanderungsgesetz bringt und warum lebenslanges Lernen für alle immer wichtiger wird: Ein Interview mit IHKLW-Bildungsexperte Sönke Feldhusen.
Herr Feldhusen, jedes Jahr melden Unternehmen, nicht alle Ausbildungsplätze besetzen zu können. Wie sieht es zum Ausbildungsstart 2023 aus?
Bei den IHK-Ausbildungsverträgen konnten wir – Stand Anfang Juli - ein Plus von 8,9 Prozent im Vergleich zum Vorjahr feststellen. Das ist ein erfreulicher Zuwachs. Da noch viel Bewegung im Ausbildungsmarkt stattfindet, ist es für eine Bilanz allerdings noch zu früh. Vermutlich werden wir aber mit einem größeren Zuwachs an Verträgen in das neue Ausbildungsjahr starten als im vergangenen Jahr. Gleichzeitig bestätigt eine aktuelle IHK-Umfrage: Jeder zweite Ausbildungsbetrieb schafft es weiterhin nicht, alle Ausbildungsplätze zu besetzen. Das bedeutet einerseits, dass Bewerbungen für Schüler*innen weiterhin aussichtsreich sind. Andererseits zeigt sich aber auch, dass die regionale Wirtschaft weiterhin nicht genügend Auszubildende findet. Damit die Bedarfe der Betriebe sichtbar sind und auch in der Politik wahrgenommen werden, empfehlen wir den Betrieben dringend, ihre offenen Ausbildungsplätze auch wirklich bei den Arbeitsagenturen zu melden. Sonst werden die Bemühungen der regionalen Wirtschaft statistisch unterschätzt, was Diskussionen unter Umständen in falsche Richtungen lenkt.
Trotzdem finden jedes Jahr auch viele Jugendliche keinen Ausbildungsplatz. Deshalb möchte die Bundesregierung eine Ausbildungsgarantie einführen – eine gute Idee?
Nein, das sehen wir nicht so. Im Arbeitsagenturbezirk Lüneburg-Uelzen beispielsweise gab es – Stand Ende Juni – noch 1.670 offene Ausbildungsstellen, 14 Prozent mehr als zur gleichen Zeit des letzten Jahres. Und da sind die nicht gemeldeten Ausbildungsstellen eben auch nicht mitgezählt. Dem standen zum gleichen Zeitpunkt 1.370 unversorgte Bewerber*innen gegenüber. Vielfach fokussieren sich Schüler*innen noch zu sehr auf bestimmte Berufe und blicken zu wenig nach links und nach rechts. Oder sie fokussieren sich auf ein Studium. Wichtig wäre es, viel früher, viel mehr und vor allem viel besser Berufsorientierung an Schulen anzubieten, damit Schüler*innen einen Berufseinstieg wählen können, der zu ihren Stärken und Talenten passt. Es gibt rund 300 Berufe in Industrie, Handel, Handwerk und Pflege. Und auch am Ende eines Studiums steht eine berufliche Tätigkeit – häufig in einem Unternehmen. Es muss gelingen, das Ausbildungsangebot der Betriebe mit realistischen Vorstellungen junger Menschen zusammenzubringen. Die im Gesetzentwurf vorgesehene Förderung eines weiteren, berufsorientierenden Praktikums ist dafür sinnvoll. Der angekündigte Mobilitätszuschuss für pendelnde Azubis kann hoffentlich dabei helfen, den passenden Ausbildungsplatz in einem Betrieb jenseits des Heimatortes zu finden. Und die vorgesehene flexiblere Gestaltung von Einstiegsqualifizierungen kann noch mehr Interessierten Startchancen in Unternehmen ermöglichen. Eine relativ teure Investition in zusätzliche überbetriebliche Ausbildung geht hingegen eher an der Wirklichkeit des Ausbildungsmarktes vorbei.
In der aktuellen Ausbildungsumfrage der IHK-Organisation sprechen sich mehr als 80 Prozent der IHK-Ausbildungsbetriebe gegen eine Ausbildungsgarantie aus. Warum?
Die Unternehmen haben die Sorge, dass durch die Ausbildungsgarantie ihre betrieblichen Ausbildungsplätze verdrängt werden und dass außerbetrieblich Qualifizierte nicht dem Bedarf der Praxis entsprechen. Besser wäre es daher, auf eine gesetzliche Regelung zu verzichten und die seit 2014 in der Allianz für Aus- und Weiterbildung festgeschriebene Chancengarantie weiterzuentwickeln. Danach erhält jeder zum 30. September eines Jahres unvermittelte Jugendliche drei Angebote für betriebliche Ausbildungsplätze – wenn auch nicht immer im Wunschberuf. Für junge Menschen mit Vermittlungshemmnissen sollte das vorhandene große Portfolio an Unterstützungsmöglichkeiten der Arbeitsagenturen noch offensiver ausgespielt werden. Hierzu gehen wir gern und immer wieder mit den Arbeitsagenturen ins Gespräch.
Die Unternehmen bilden nah an der Praxis aus. So bereiten sie die Azubis optimal auf das Berufsleben vor.
Wie wichtig ist die Duale Berufsausbildung als Instrument zu Fachkräftesicherung?
Die Duale Berufsausbildung ist eines der wichtigsten Instrumente zur Fachkräftesicherung. Die Unternehmen bilden nah an der Praxis aus. So bereiten sie die Azubis optimal auf das Berufsleben vor, denn Absolventen einer beruflichen Ausbildung vereinen theoretisches Wissen mit praktischen Erfahrungen. Deshalb suchen Unternehmen in unserer Region übrigens vor allem nach Mitarbeitenden mit einer abgeschlossenen dualen Berufsausbildung oder darauf aufbauenden Fortbildungsabschlüssen. Auch mit Blick auf die Zukunft gilt, dass von den 400.000 fehlenden Fachkräften pro Jahr, die das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung prognostiziert, der größte Teil beruflich qualifiziert sein müsste, um den Bedarf zu decken. Das bestätigt einmal mehr, wie chancenreich und attraktiv ein Berufseinstieg mit einer dualen Ausbildung ist.
Wie sollten Unternehmen Ihre Ausbildung aufbauen, um Azubis langfristig zu Fachkräften zu entwickeln?
Das IHK-Siegel „Top Ausbildung“ bietet dazu eine Reihe von Hinweisen. Hier werden besonders gut aufgestellte Ausbildungsbetriebe entlang eines Kriterienkataloges durch Ausbildungsexperten aus dem IHK-Umfeld zertifiziert. Die IHK-Ausbildungsberater beraten gern Betriebe zu ihrem konkreten Verbesserungspotenzial und können auch Zertifizierungen begleiten. Wichtig ist, die Azubis von Beginn an zu integrieren, sie ihren Talenten entsprechend zu fördern, sie bei Bedarf zu unterstützen und ihnen Perspektiven im Unternehmen aufzuzeigen. Das fängt an mit einem guten Onboarding, geht mit einer guten Feedbackkultur und Unterstützungsangeboten während der Ausbildung weiter und endet mit einer guten Prüfungsvorbereitung und Karriereberatung. Unsere IHKLW bietet auch für Azubis passende Seminare, nicht nur zur Prüfungsvorbereitung, sondern auch für den Ausbildungsstart. Und natürlich vermitteln wir Ausbildenden das wesentliche Know-how für den Ausbilder*innen-Schein und in weiterqualifizierenden Seminaren.
Weiterbildung ist ja nicht nur für Auszubildende und Ausbilder ein wichtiges Thema. Techniker*innen, Meister*innen und Fachwirt*innen, also Absolvent*innen der Höheren Berufsbildung, werden von Betrieben händeringend gesucht.
Absolut! Die Arbeitslosenquote beträgt für diese beruflich qualifizierten Fachkräfte nur 1,2 Prozent – weniger als bei Akademikern. Die Höhere Berufsbildung ist somit ein besonders chancenreicher Qualifizierungsweg für karrierebewusste Mitarbeitende, und Unternehmen können mit Angeboten der Höheren Berufsbildung aus der eigenen Belegschaft weitergebildete Fach- und Führungskräfte auf Top-Niveau entwickeln. Die Abschlüsse von Techniker*innen, Meister*innen und Fach- und Betriebswirt*innen liegen auf dem Niveau fünf, sechs und sieben des Deutschen Qualifikationsrahmens. Sie sind also gleichwertig zum Bachelor und Master einer Hochschule. Das muss sich in der öffentlichen Wahrnehmung noch stärker verankern. Schon jungen Menschen muss klar sein, dass sie sich mit einer beruflichen Ausbildung für einen zukunftsorientierten Karriereweg entscheiden, der – verbunden mit einer entsprechenden Weiterbildung – einem akademischen Abschluss in nichts nachsteht und am Arbeitsmarkt sehr nachgefragt wird. Diese Information zu vermitteln ist auch Aufgabe der Berufsorientierung, die wir flächendeckend endlich auch an Gymnasien brauchen.
Welche Rolle spielen Weiterbildungsangebote für die Mitarbeiterentwicklung in Unternehmen?
Regelmäßige Weiterbildungen sollten in jedem Unternehmen für alle Mitarbeitenden ermöglicht werden. Unsere Arbeitswelt verändert sich kontinuierlich und immer schneller. Demografischer Wandel, Digitalisierung, Klimawandel und damit verbunden neue gesetzliche Vorgaben, Technologien und veränderte Kundenbedürfnisse. Die Reaktion darauf ist einerseits das, was sich unter New Work zusammenfassen lässt: Unternehmenskulturen werden agiler gestaltet, die Potenzialentfaltung der Mitarbeitenden spielt eine zunehmend wichtige Rolle, damit verbunden sind organisatorische und strukturelle Veränderungen sowie ein Führungsstil, der Mitarbeitende zu Eigenverantwortung befähigt und ihre Stärken fördert. Es geht im Prinzip um Befähigung zum Selbstlernen und zur Selbststeuerung. Für viele Unternehmen ist das ein immer noch neues Mindset. Andererseits braucht es aber auch aktuelle, passende, bessere und teils auch digitalisierte Lernangebote von und für Unternehmen. Die kontinuierliche Weiterqualifizierung von Führungskräften und Mitarbeitenden muss heute in jedem Betrieb eine wesentliche Rolle spielen.
Der Fachkräftemangel zählt zu den größten Risiken für die regionale Wirtschaft. Gilt das für alle Branchen?
Im Grund ja. Im DIHK-Fachkräftereport 2022 haben mehr als die Hälfte von fast 22.000 Unternehmen angegeben, nicht alle offenen Stellen besetzen zu können – ein Rekordwert. Über alle Branchen hinweg sehen sich 53 Prozent der Betriebe von Personalengpässen betroffen, in der Industrie und in der Bauwirtschaft sind es jeweils 58 Prozent. Schätzungen zufolge mindert der Fachkräftemangel die Wirtschaftsleistung bundesweit um rund 2,5 Prozent. Und mit dem Ausscheiden der Baby-Boomer aus dem Arbeitsmarkt ist bis 2030 mit einem demografisch bedingten Rückgang um bis zu fünf Millionen Arbeitskräften zu rechnen. Das heißt: Der Höhepunkt des Fachkräftemangels kommt erst noch.
Das Fehlen von Fachkräften belastet Betriebe und gefährdet den Erfolg wichtiger Zukunftsaufgaben.
Welche langfristigen Folgen könnte der Fachkräftemangel haben?
Das Fehlen von Fachkräften belastet nicht nur die Betriebe, sondern gefährdet auch den Erfolg bei wichtigen Zukunftsaufgaben: Energiewende, Digitalisierung und Infrastrukturausbau – für diese Aufgaben brauchen wir vor allem Menschen mit praktischer Expertise. Laut DIHK Fachkräftereport 2022 können beispielsweise 67 Prozent der Hersteller elektrischer Ausrüstungen Stellen nicht besetzen; bei den Produzenten von Datenverarbeitungsgeräten, elektronischen und optischen Erzeugnissen gilt dies für 63 Prozent, im Maschinenbau für 67 Prozent und im Fahrzeugbau für 65 Prozent der Betriebe. Das beeinträchtigt wichtige Transformationsaufgaben wie Elektromobilität oder erneuerbare Energien. Auch die Engpässe in baurelevanten Bereichen wie den Architektur- und Ingenieurbüros – 58 Prozent haben Besetzungsprobleme – dürften die Zielerreichung etwa bei klimagerechter Sanierung, der Installation von Windkraftanlagen, beim Wohnungsbau sowie bei Erhalt und Ausbau von Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur erschweren.
Inwiefern können Fachkräfte aus dem Ausland, auch außerhalb der EU, die Fachkräftelücke schließen?
Die Einwanderung qualifizierter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus Drittstaaten ist ein wichtiger Baustein, um den Fachkräftebedarf hierzulande und auch in unserer Region zu decken. Allerdings erweist sich der Rekrutierungsprozess im Ausland gerade für KMU als kompliziert und lässt diese häufig davor zurückschrecken. Hinzu kommen rechtliche und administrative Hürden in Drittstaaten und auch bei uns in Deutschland, die Prozesse verlangsamen und verteuern können, was den Aufwand für Betriebe in die Höhe treibt.
Die Reform des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes bringt einige Erleichterungen mit sich. Zukünftig können beispielsweise alle Fachkräfte nach Deutschland kommen, die mindestens zwei Jahre Berufserfahrung und einen im Ausland erworbenen und dort staatlich anerkannten Berufsabschluss haben. Der Abschluss muss nicht mehr zuvor in Deutschland anerkannt werden, was weniger Bürokratie und damit kürzere Verfahren bedeutet. Auch die neue Chancenkarte ist zu begrüßen. Diese gilt für Menschen, die noch kein konkretes Arbeitsplatzangebot haben, aber Potenzial für den Arbeitsmarkt mitbringen. Das Punktesystem basiert auf Kriterien wie Qualifikation, Deutsch- und Englischkenntnisse, Berufserfahrung, Deutschlandbezug, Alter und Potenzial der Lebens- oder Ehepartnerinnen oder -partner. Weitere Änderungen sind gleichwohl sinnvoll.
Nämlich welche?
Ich denke hier besonders an die Digitalisierung und Beschleunigung von Visa- und Berufsanerkennungsprozessen, an eine noch weitergehende Öffnung im Bereich Berufsanerkennung und an die Einführung von Englisch als zweite Amtssprache, um der schon entstandenen neuen Realität im Bereich Zuwanderung gerecht zu werden.
Was braucht es, um die Integration von Geflüchteten zu erleichtern?
Viele Unternehmen engagieren sich bereits für Geflüchtete – mit Ausbildungsplätzen ebenso wie mit Beschäftigungschancen. Damit Integration auch jenseits der Betriebe zum Erfolg wird, brauchen wir gute staatliche Rahmenbedingungen. Und wir brauchen Behörden und Anlaufstellen, die effizient und unbürokratisch arbeiten. Denn genau wie die Geflüchteten selbst möchten auch die Betriebe gut und rechtssicher planen können. Ganz besonders wichtig sind außerdem Sprachkurse und Nachhilfe für die Beschäftigten. Hier sind die Berufsbildenden Schulen aktuell personell überfordert. Die Angebote müssen mehr werden und auch durch digitale Komponenten so gestaltet sein, dass sie sich mit Beschäftigung und Ausbildung im Betrieb vereinbaren lassen. Die Koalition sollte daher bei ihren integrationspolitischen Vorhaben neben der Ressourcenfrage immer auch die Frage im Blick haben, wie sie Betrieben eine einfachere Einstellung von Geflüchteten ermöglichen kann.
Das Wichtigste ist eine vereinbarkeitsförderernde Personalpolitik, die Eltern eine paritätische Berufstätigkeit ermöglicht.
Im Inland gilt eine höhere Berufstätigkeit von Frauen als erfolgsversprechend, um die Fachkräftelücke zu schließen. Wie können Unternehmen sich attraktiver für weibliche Fachkräfte aufstellen?
Das Wichtigste ist eine vereinbarkeitsförderernde Personalpolitik, die Eltern eine paritätische Berufstätigkeit ermöglicht. Denn Frauen kehren laut dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung vor allem dann früher und in Vollzeit aus der Elternzeit zurück, wenn ihre Partner sich länger als zwei Monate an der Elternzeit beteiligen. Die Partnermonate für Väter haben sich normativ durchgesetzt. Allerdings möchten viele Väter gerne länger in Elternzeit gehen als nur zwei Monate – und mit diesem Wunsch werden sie in den Unternehmen oft allein gelassen. Das gilt insbesondere für Führungskräfte, von denen immer noch erwartet wird, dass sie während ihrer Elternzeit die Aufgaben im Team verteilen oder selber übernehmen. Und natürlich ist der Wunsch vieler Väter nach längerer Elternzeit angesichts der Gender-Pay-Gap oft nicht realisierbar. Wenn dagegen Partnerinnen genauso viel verdienen wie ihre Partner, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Väter länger in Elternzeit gehen. Und vor dem Hintergrund, dass 75 Prozent der Beschäftigten zwischen 25 und 39 Jahren für mehr Familienfreundlichkeit sogar den Arbeitgeber wechseln würden, dürfte es sich für Unternehmen mittel- bis langfristig auszahlen, nicht mehr Mütter oder Väter einzeln anzuwerben, sondern berufstätige Paare als Zielgruppe familienfreundlicher Personalpolitik in den Blick zu nehmen.
An wen können sich Betriebe mit Beratungsbedarf wenden?
Das Netzwerkbüro „Erfolgsfaktor Familie“ – ein gemeinsames Projekt der DIHK und des Bundesfamilienministeriums – berät Betriebe umfänglich rund um Familienfreundlichkeit. Und regional bietet das FAMISiegel einen niedrigschwelligen Einstieg. Sandra Bengsch
Kontakt
Sönke Feldhusen
Heidrun von Wieding