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Was macht Zentren zukunftsfähig?
Große Einzelhandelsketten ziehen sich aus den Zentren zurück, die Herausforderung, sich gegenüber dem Online-Handel zu behaupten bleibt und die Folgen der Corona-Pandemie sind noch nicht überstanden. Was also mach Zentren zukunftsfähig? Unsere Wirtschaft hat vier Expertinnen und Experten befragt.
Thorsten Hensel, Inhaber des Bio-Supermarkts Wendlandmarkt in Lüchow, engagiert sich als Vertreter des Einzelhandels in der IHKLW-Vollversammlung und als zweiter Vorsitzender der Interessengemeinschaft Handel & Gewerbe Lüchow. Er beschäftigt sich viel mit der Zukunft von Zentren und sagt: “Ob auf dem Land oder in der Stadt: Für die Zentren der Zukunft geht es darum, der Mittelpunkt des Gemeinschaftslebens zu sein. Damit das gelingt, hilft es nicht, über Leerstände zu jammern – Kommunen, Händler und Eigentümer müssen die Herausforderungen annehmen und handeln. Wesentlich dabei ist, die Menschen vor Ort nach ihren Wünschen zu fragen. Bei einer solchen Umfrage haben beispielsweise Lüchow, Wustrow und Clenze weit über 1.000 Antworten erhalten. Ergebnis: Priorität haben verkehrsberuhigte Zonen und sichere Radspuren. Außerdem wünschen sich die Menschen mehr Grünflächen und Begegnungsstätten. Das kann ein attraktives gastronomisches Angebot sein, Spielplätze in den Zentren und multifunktionale Plätze, die beispielsweise tagsüber Orte der Erholung sind, auf denen Menschen sich sonnen oder picknicken und auf denen abends Theater, Freilichtkino oder eine politische Debatte stattfinden können. In leerstehende Geschäfte könnte mit gemeinnützigen Kultur-, Begegnungs- und Beratungsstätten oder Wohnraum neues Leben einziehen.”
Johanna Crolly, Innenstadtmanagerin in Celle, engagiert sich als Mittlerin zwischen Unternehmen und Stadt für eine lebenswerte Innenstadt. Sie sagt: „Wir Menschen sind Herdentiere, die Gesellschaft lieben. Um mit anderen zusammen kommen zu können, benötigen wir Raum. In der Innenstadt wird auch in Zukunft das öffentliche Leben stattfinden – dort werden wir einkaufen, erleben, genießen und verweilen. Diese Bedürfnisse müssen wir jedoch miteinander in Einklang bringen und Innenstädte genau dafür entwickeln: Wir müssen Räume schaffen, die nicht ausschließlich konsumorientiert sind, sondern der Entspannung und Unterhaltung dienen. Dafür spielt die Aufenthaltsqualität der Innenstadt eine entscheidende Rolle. In Celle sind die Wege kurz. Dass alle relevanten Orte zu Fuß erreichbar sind – Geschäfte, Supermärkte, Kinos, Theater – halte ich für entscheidend. Dazu sind wir gesegnet mit einer wunderschönen historischen Altstadt, die umgeben ist von Erholungszonen mit Wasser und Parks. Und es wird eine große Vielfalt geboten, auch in Bezug auf Gastronomie und Handel.
Ich glaube, das ist das Geheimnis: Es geht darum, Emotionen zu wecken, die Menschen müssen sich wohlfühlen können. Dazu gehören Blumenschmuck, Sitzgelegenheiten, Fahrradständer, eine gute Infrastruktur. In Celle haben wir Wohnen, Arbeiten, Konsum, Unterhaltung und die Möglichkeit zu persönlichen Begegnungen unter einen Hut gebracht. Dieser Weg hat vor fünf Jahren begonnen, als unser jetziger Oberbürgermeister im Wahlkampf die Aufenthaltsqualität der Innenstadt in den Fokus gesetzt hat. Seither setzen wir das konsequent um, unterstützen gute Konzepte und inhabergeführte Geschäfte – in dem Zuge wurde auch meine Stelle implementiert. Im Gespräch mit den unterschiedlichen Akteuren der Innenstadt stellen wir gemeinsam etwas auf die Beine. Dieses Quartiersdenken funktioniert sehr gut. Ich glaube, der Wandel der Innenstädte ist ein Prozess, der nie abgeschlossen sein wird. Jede Generation hat ihre eigenen Wünsche und Innenstadt bleibt nur dann lebendig, wenn sie sich weiterentwickelt.”
Tim Mittelstaedt ist Gründer und Geschäftsführer von timmersive. Das Unternehmen mit Sitz in Hannover und Berlin produziert für Kunden aller Branchen 360-Grad-Videos und entwickelt VR-/AR-Konzepte. Er ist überzeugt: „Wir müssen uns davon verabschieden, dass die Innenstadt auch in Zukunft nahezu komplett aus Handel besteht. Zentren werden Orte der Begegnung bleiben, an denen Menschen gerne Zeit verbringen, Freunde in Cafés und Restaurants treffen – und sich parallel von Produktangeboten inspirieren lassen. Zum Einkaufen brauchen wir die Innenstadt schon heute nicht mehr unbedingt, das kriegen wir – auch mit Augmented Reality (AR) – einfach im Wohnzimmer zu Hause hin. In naher Zukunft wird es Anwendungen geben, mit denen man sich virtuell ganze Kleidungsstücke auf den Leib schneidern lassen kann. Damit könnten zum Beispiel Modehäuser punkten, wenn sie diese Monitore, die ähnlich wie Spiegel funktionieren, im Schaufenster installieren. So könnten Menschen auch nach Ladenschluss und am Sonntag die neueste Kollektion ausprobieren. Der richtige Durchbruch wird kommen, sobald wir die Anwendungen auf den normalen mobilen Endgeräten oder den Augmented- oder Virtual-Reality-Brillen nutzen können.“
Theresa Schleicher, Handelsexpertin des Zukunftsinstituts in Frankfurt/Main, berät Unternehmen zum Thema Innovation und gibt den „Retail Report“ zu Megatrends im Handel heraus. Ihre Antwort auf die Frage zur Zukunft von Zentren: „Die Innenstadt der Zukunft wird sich je nach Stadt-Land-Gefüge unterscheiden. Im Jahr 2040 werden 70 bis 80 Prozent der Menschen in Großstädten wohnen. Die urbanen Innenstädte werden jedoch immer stärker verdörflichen. Sogenannte 15 Minuten-Städte, wie es sie in Paris gibt, werden dann auch hier eine große Rolle spielen: Mit kurzen Wegen zu lokalen und regionalen Angeboten, wo eigentlich alles Wichtige direkt um die Ecke ist.
An großen Plätzen wird es City-Plattformen geben von denen aus die unmittelbare Region beliefert wird. Dort werden neue nachhaltige Einkaufszentren stehen, die mehr Entertainment, eine vielfältige Gastronomie und eine bessere Auswahl an kuratierten Marken bieten. Durch eine zentral organisierte Logistik wird weniger Lieferverkehr unterwegs sein. Im Zuge der Neoökologie, also dem derzeitigen Megatrend der Nachhaltigkeit, werden lokale Click-and-Collect-Stationen an Bedeutung gewinnen, wo zuvor online Bestelltes abgeholt werden kann. Individualverkehr wird stärker eingeschränkt werden, dafür wird es in den Innenstädten vermehrt Gemeinschaftsplätze und Grünflächen geben.
Auf dem Dorf hingehen, insbesondere in der Nähe von Städten, muss in den nächsten 20 Jahren viel investiert und die Infrastruktur ausgebaut werden. Diese Regionen werden Hochburgen für neue Tech-Talente und E-Commerce und zu zentralen Produktions-und Versorgungsstätten für die Städter werden. Unsere Lebenswelt und die Produktionsstätten von Waren werden genau dort näher zusammen rücken. Dadurch verstädtert sich das Bild des Dorfes – in Richtung Digital-Know How, Infrastruktur, Angebot und Vielfalt, Kreativität und Internationalisierung.“
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