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Die soziale Müslirösterei
Einen Teil der Einnahmen in Charity-Projekte zu investieren, gehört für die meisten Unternehmen zum guten Ton. Manche Marken nutzen es als Verkaufsargument, dass sie pro umgesetztem Produkt Brunnen in Afrika bauen oder Regenwälder aufforsten wollen. Ein Unternehmen, das einen Schritt weiter geht – weg von der reinen Mildtätigkeit –, das wirtschaftlich erfolgreich sein will, um Arbeitsplätze zu schaffen, ist „HEYHO, die soziale Müslirösterei“ in Lüneburg.
„Wir können die besonderen Herausforderungen unserer Zeit nur wuppen, wenn jeder von uns einen Beitrag für den gesellschaftlichen Zusammenhalt leistet“, ist Christian Schmidt, der gemeinsam mit Timm Duffner die Geschäfte leitet, überzeugt. „Die ökologischen Probleme werden sich nicht nur mit Hilfe von Technologie lösen lassen. Am Ende braucht es die Kraft aller Menschen, die hier leben.“
Und so bedingen sich Bioqualität, wirtschaftlicher Erfolg und soziale Verantwortung bei HEYHO sogar, so Schmidt: „Je besser unsere Produkte sind, je mehr Müsli wir also verkaufen und produzieren können, umso höher ist unser sozialer Impact und umso mehr Menschen können wir anstellen.“ Als regionales Unternehmen habe man ein klares Ziel: „Wir wollen eine konkrete Verbesserung hier vor Ort und Perspektiven für Menschen schaffen.“
Wir glauben an zweite Chancen und schaffen echte Perspektiven für Menschen, die vom ersten Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind.
Menschen wie Romano, Anfang 50, der zu seinem Schutz – wie die anderen Team-Mitglieder auch – auf der Website von HEYHO nur beim Vornamen genannt wird, der eine lange Drogenvergangenheit und sieben Jahre seines Lebens im Gefängnis verbracht hat. „Nach Entzug und einem Jahr der Stabilisierung kümmerte er sich ehrenamtlich bei der Diakonie um die Pflege des Hof-Geländes“, erinnert sich Schmidt. Immer wieder fragte er, ob es bei HEYHO einen Job für ihn gäbe. „Vor zweieinhalb Jahren hat er bei uns angefangen und übernimmt inzwischen eine tragende Rolle in unserer Produktion.“ Romano gilt wie die anderen neun mit ähnlich unsteten Biografien als „Mensch mit multiplen Vermittlungshemmnissen“, die anderswo kaum eine Chance bekommen. „Bei uns erfahren sie Wertschätzung und übernehmen Verantwortung, das gibt ihnen Selbstbewusstsein und sie wachsen über sich hinaus“, so Schmidt.
Beim täglichen gemeinsamen Mittagessen knallten manchmal Welten aufeinander, wenn Studierende und Ex-Knackis an einem Tisch sitzen. Und genau so soll es sein, findet Schmidt: „Wir wollen Menschen über die Arbeit zusammenbringen, um Vorurteile abzubauen.“
Das war der Sinn der Gründung: Mit einer hochwertigen Lebensmittelmanufaktur etwas zu bewegen. Im Drei-Säulen-Modell der nachhaltigen Entwicklung stehen die sozialen gleichberechtigt neben den ökologischen und ökonomischen Zielen der Nachhaltigkeit. Die HEYHO-Macher wollen alles gleichzeitig: umweltschonend mit regionalen, ökologisch hergestellten Rohstoffen produzieren, wirtschaftlichen Erfolg und die Verbesserung der Lebenssituation ihrer Angestellten.
Inspiration hatten sie von einer Bäckerei im US-Bundesstaat New York, die vor mehr als 30 Jahren gegründet wurde und mittlerweile zu den größten Brownie-Produzenten in den USA gehört. Dort gelte eine „open hiring policy“, erzählt Schmidt. Bei einer zu besetzenden offenen Stelle bekommt die Person den Zuschlag, die sich als erste bewirbt – unabhängig vom Lebenslauf. „Diese radikale Offenheit gegenüber Menschen, nicht nach der Ausbildung zu fragen, sondern sich darauf zu fokussieren, wo dieser Mensch gerade steht und wo es hingehen soll, das hat uns fasziniert“, so Schmidt. Duffner und Schmidt kannten sich von vorigen Jobs beim Eiscreme-Hersteller Ben & Jerry’s, der für sein soziales und politisches Engagement bekannt ist.
Teure Produkte, unzuverlässige Angestellte, der strenge Kündigungsschutz in Deutschland – viele dachten, das könne nicht klappen.
Mit dem befreundeten Leiter einer Einrichtung für wohnungslose Menschen in Lüneburg entwickelten sie die Idee einer „radikal sozialen Müslirösterei“. „Der Gegenwind war anfangs stark“, erinnert sich Schmidt. „Teure Produkte, unzuverlässige Angestellte, der strenge Kündigungsschutz in Deutschland – viele dachten, das könne nicht klappen.“ Doch Ende 2016 ging die Manufaktur an den Start, mittlerweile wird hier pro Woche eine Tonne Hafer per Hand geröstet. Der Hamburger Delikatessen-Händler „Mutterland“ war der erste, der HEYHO-Produkte ins Sortiment nahm, mittlerweile gibt es die Handvoll verschiedenen Sorten unter anderem bei Alnatura und in Bioläden sowie im eigenen Onlineshop zu kaufen.
Der vergleichsweise hohe Preis von rund 25 Euro pro Kilogramm hält HEYHO-Fans nicht ab. 2021 verkaufte HEYHO laut Schmidt knapp 100.000 Gläser und machte damit rund eine Million Euro Jahresumsatz. „Das ermöglicht es uns aktuell, 33 Menschen jeden Monat zu bezahlen“, so Schmidt. 13 Euro brutto Stundenlohn gebe es. Die Arbeitsmodelle werden so flexibel wie möglich gehalten, manche arbeiten vier Tage die Woche, andere nur wenige Stunden. Dass das Gründungs-Kernteam noch immer nahezu komplett sei, deutet Schmidt als gutes Zeichen.
Rückschläge passieren – als ein Angestellter mit Suchtvergangenheit in seiner Freizeit wieder rückfällig wurde und aus Scham nicht mehr bei der Arbeit auftauchte, habe man sich mit ihm zusammengesetzt und nach Möglichkeiten gesucht, zu helfen. So funktioniere es. Schmidt: „Viele Menschen hören bei uns zum ersten Mal so etwas wie: Cool, dass du da bist! Wir glauben, dass jeder Mensch einen Ort braucht, an dem er sich aufgehoben fühlt. Wir sehen Vielfalt als Chance.“ Anne Klesse
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Sandra Bengsch