Südhessen stellt sich der Transformation
Die Zeit drängt. Um die Klimaziele der nächsten Jahre und Jahrzehnte nicht zu reißen, ist rasches Handeln gefragt. Südhessische Unternehmen zeigen, wie weit sie bei der Transformation hin zu klimaneutralem Wirtschaften sind – und wo die Grenzen liegen.
Text: Matthias Voigt
194 Länder haben mittlerweile das Pariser Abkommen von 2015 unterschrieben, das sich zum Ziel setzt, die globale Erderwärmung bis 2100 auf möglichst 1,5 Grad gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter zu begrenzen. Dies sei nötig, um die Folgen des Klimawandels zu begrenzen und extreme Klimaereignisse zu vermeiden.
Dabei haben die vergangenen Jahre bereits einen Vorgeschmack auf das gegeben, was die menschengemachte Erwärmung des Planeten an unliebsamen Folgen mit sich bringt: Hitzewellen, Dürren, Überschwemmungen, Stürme und Wasserknappheit – auch in unseren Breiten. Die Extremwetterereignisse nehmen zu.
Bereits 1,1 Grad Erderwärmung
In seinem Bericht fürs Jahr 2023 stellte der Weltklimarat der Vereinten Nationen unmissverständlich fest: Es bleibt keine Zeit mehr und es muss sofort gehandelt werden. Und: Die bisherigen Maßnahmen im Kampf gegen den Klimawandel sind zu wenig ambitioniert und weitreichend. Gebe es hier nicht ein sofortiges weltweites Umdenken und entschlossenes Handeln, werde sich die Erde bereits in den 2030er Jahren um 1,5 Grad erwärmt haben. Aktuell liegt der Wert schon bei 1,1 Grad.
Die Europäische Union hat den Green Deal ausgearbeitet, ein Instrument, um bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent zu werden. Bis dahin muss ein Großteil der Emissionen, die zum Beispiel durch die Verbrennung von Kohle, Öl oder Gas entstehen, vermieden und ein kleinerer Teil gespeichert werden.
Als Leitlinie für die Transformation kann Unternehmen beispielsweise die Charta Nachhaltiges Wirtschaften des Landes Hessen dienen. In ihr sind die 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen (SDG) und deren Adaption auf Unternehmen aufgeführt. Diesen Zielen fühlt sich zum Beispiel Achim Kopp verpflichtet. Der Unternehmer aus dem Lindenfelser Stadtteil Winterkasten hat vor acht Jahren die Gelegenheit beim Schopf gepackt, nachhaltiger zu produzieren.
Achim Kopp, Geschäftsführer von Kopp Schleiftechnik aus Lindenfels, lässt nachhaltiger produzieren.
© IHK Darmstadt/Thomas Neu
Damals stand der Neubau an, in dem Kopp Schleiftechnik »mehr als nur die gesetzlichen Vorgaben erfüllen« wollte, wie der Geschäftsführer des Familienbetriebs sagt. Das neue Gebäude schmiegt sich an den Hang, ist terrassenförmig eingebettet in die Landschaft. Vom Konferenzraum aus sieht man hangaufwärts Wiesen und etwas entfernt den Waldrand, am anderen Ende des Raums geben Fenster einen weiten Blick auf die hügelige Umgebung des Odenwalds frei. »Weil wir in so schöner Natur leben und arbeiten dürfen, wollen wir auch umweltverträglicher produzieren«, begründet der 61-Jährige.
Weil wir in so schöner Natur leben und arbeiten dürfen, wollen wir auch umweltverträglicher produzieren.Achim Kopp, Geschäftsführer von Kopp Schleiftechnik
Der Neubau von Kopp Schleiftechnik verfügt über ein System der Wärmerückgewinnung, das beträchtliche Energiemengen einspart.
© IHK Darmstadt/Thomas Neu
Den größten Fortschritt brachte aber modernste Gebäudetechnik bei Dämmung und Fenstern und vor allem die Einführung eines Systems zur Wärmerückgewinnung von Maschinen. Etwa 75 Prozent der Energie wird nun wiederverwendet für das Heizen und Kühlen des Gebäudes. Und das Unternehmen ist bei der Umstellung der Energieversorgung längst noch nicht am Ziel.
Mithilfe eines Systems zur Wärmerückgewinnung von Maschinen kann das Gebäude gekühlt und geheizt werden – bei deutlich geringerem Energieverbrauch.
© IHK Darmstadt/Thomas Neu
Weniger Verpackungsmüll
Zwar ist das Gebäudedach mit Technik für die Lüftung größtenteils belegt und kam daher nicht für Solar infrage. Dafür soll in den nächsten Jahren eine Freiflächen-PV-Anlage installiert werden. »Wir haben mittelfristig vor, 50 bis 60 Prozent unseres Strombedarfs über Solar zu decken.« Am liebsten hätte Achim Kopp, der den Übergang der Geschäftsführung an die nächste Generation in der Familie längst geebnet hat, Geothermie genutzt. Aber das sei am Einspruch der Behörden gescheitert.
In Winterkasten werden zum Teil winzige Bohrer hergestellt, die etwa in der Dentalbranche eingesetzt werden.
© IHK Darmstadt/Thomas Neu
Dass auch die Belegschaft mitzieht, deutet Kopp an, wenn er von der Nutzung des Jobrads spricht. Mehr als die Hälfte der 40 Mitarbeiter kämen mit dem Rad zur Arbeit – und das bei teils knackigen Anstiegen. »Die meisten unserer Mitarbeiter kommen aus den umliegenden Dörfern, die Anfahrten sind sehr gering«, sagt Kopp. Vor acht Jahren hätte das Unternehmen auch in ein Gewerbegebiet nach Bensheim ziehen können. Dann wären die Pendlerwege deutlich länger geworden und hätten mehr Emissionen verursacht. Von zentraler Bedeutung war für Kopp damals aber ein anderer Grund: »Wir wollten den ländlichen Raum weiter stärken und unserer Heimat etwas zurückgeben.« Wer lebendige Dörfer erhalten möchte, müsse auch für wohnortnahe Arbeitsplätze sorgen.
Aster Europe um Geschäftsführer Axel Lüdecke vertreibt Fadenheftmaschinen des Mutterkonzerns Meccanotecnica in Nordosteuropa.
© Roger Richter
Bisher hatte Aster Europe seinen Sitz in Darmstadt, am Ausgang Richtung Weiterstadt. »Das Gebäude war überdimensioniert«, sagt Lüdecke. Allein die Werkstatt nahm 250 Quadratmeter ein, obwohl sie kaum noch genutzt wurde. Das Gebäude in der Bunsenstraße stammt aus den achtziger Jahren, wird über eine Gaszentralheizung geheizt, verfügt über keine PV-Anlage. Außerdem ist es schlecht isoliert. Im Winter ist es sehr kalt, im Sommer gleich bullig heiß.
Am neuen Standort von Aster Europe in Zwingenberg ist das Dach fast komplett mit PV-Anlagen bestückt.
© Axel Lüdecke
Bei dem Versuch, nachhaltig zu wirtschaften, stößt auch Aster Europe bisweilen an Grenzen. Fünf der momentan elf Mitarbeiter sind als Servicetechniker im Einsatz. »Die haben ihre Teile und Koffer dabei, die kann man nicht mal eben im Zug mitnehmen«, verdeutlicht Lüdecke. Außerdem führen sie bis zu 800 Kilometer am Tag, was nur möglich sei mit einem Auto, das die entsprechende Reichweite liefere. Der Geschäftsführer selbst fährt ein E-Auto, nimmt aber meistens die Bahn für Reisen zu Geschäftskunden. Die Servicetechniker fahren mit Verbrenner-Autos.
Keine E-Autos im Service
Die unzureichende Ladeinfrastruktur bei E-Autos, die langen Ladezeiten und höheren Kosten nennt Lüdecke als Gründe, warum keine E-Autos im Service eingesetzt werden. »Außerdem müsste die Ladezeit auch jemand bezahlen.« Die meisten Kunden von Aster Europe sitzen in Deutschland und Polen, aber auch Skandinavien, das Baltikum, Belgien und Holland werden durch das Unternehmen aus Zwingenberg betreut.
Das Thema Nachhaltigkeit ist für Lüdecke wichtig. Daher beteiligte er sich auch beim Testen eines Tools, das die Deutsche Industrie- und Handelskammer entwickelt hat, um gerade kleinen Unternehmen die Möglichkeit zu geben, mit minimalem Aufwand ein einheitliches Reporting für Nachhaltigkeit zu erstellen. Zum einen, um Verbräuche zu minimieren. Zum anderen, um Forderungen von Kunden zu erfüllen, die von ihren Lieferanten entsprechende Reportings benötigen.
Nachhaltigkeitsbericht für KMU in 30 Minuten: Zwar gelten die gesetzlichen Berichtspflichten seit dem 1. Januar 2024 nur für Unternehmen mit mehr als 250 Mitarbeitern, über 50 Millionen Euro Umsatz oder einer Bilanzsumme von über 25 Millionen Euro. Doch zunehmend werden auch kleinere Betriebe von Geschäftspartnern – großen Unternehmen und Banken – aufgefordert, Nachhaltigkeitsdaten zu Umwelt, Sozialem und Unternehmensführung bereitzustellen. Die IHK Darmstadt unterstützt sie über eine Kooperation mit dem Unternehmen openESG, das ein für KMU kostenfreies Software-Tool zur Erfassung von Nachhaltigkeitsdaten entwickelt hat. Über dieses Tool können Unternehmen in etwa einer halben Stunde einen Nachhaltigkeitsbericht erstellen.
»Wir legen keine eigene Strategie auf, dafür ist bei uns zu wenig Potenzial«, sagt Lüdecke im Hinblick auf eine einheitliche Nachhaltigkeitsstrategie. Aber mit Verweis auf das neue Gebäude sagt er auch: »Wir machen aber das, was wir können.«
Wir legen keine eigene Strategie auf. Wir machen aber, was wir können.Axel Lüdecke, Geschäftsführer von Aster Europe
Dass viele Unternehmen gerade bei der Steigerung der Energieeffizienz noch mehr tun könnten, davon ist Etalytics überzeugt. Das Darmstädter Unternehmen sorgt dafür, dass Unternehmen ihren Energieverbrauch mithilfe künstlicher Intelligenz (KI) deutlich senken können. Zwei der Gründer, Dr. Niklas Panten und Dr. Thomas Weber, hatten sich bereits an der Universität Darmstadt mit Energieeffizienz und -flexibilität in der Industrie beschäftigt. Im Kern des Interesses stand, daten- und KI-getriebene Einsparungen zu realisieren.
Niklas Panten hat mit Etalytics eine Plattform entwickelt, die Daten zum aktuellen Energieverbrauch von Unternehmen zusammenführt und Empfehlungen für individuell angepasste Betriebsstrategien ausgibt.
© IHK Darmstadt / Arndt Falter
Daten für weniger Energieverbrauch
Niklas Panten
© IHK Darmstadt / Arndt Falter
Bei versorgungstechnischen Systemen wie Heizung, Lüftung oder Kühlung kommen viele Komponenten ins Spiel, die interagieren. Werden sie perfekt aufeinander abgestimmt, lässt sich viel Energie sparen. Pumpen, Wärmetauscher, Lüfter oder etwa Kompressionskältemaschinen werden in verschiedenen Betriebspunkten gefahren. »Ändert man die Drehzahl an der Pumpe, hat das auch Auswirkungen auf den Wirkungsgrad aller vor- und nachgelagerten Komponenten«, gibt Panten ein Beispiel. Das Rechenzentrum liefert verschiedene Betriebsdaten in Echtzeit an die etaONE-Energieintelligenz-Plattform, die auf deren Basis ein digitales Abbild und optimierte Stellsignale für die Komponenten berechnet und als Empfehlung an die Unternehmen weitergibt. »Unsere R&DTeams entwickeln die Optimierungsanwendungen, die durch Algorithmen vor Ort umgesetzt werden«, sagt Panten.
Viel Energie werde auch durch unbemerkte Mängel an den Anlagen verschwendet, etwa wenn Filter im Kühlungsbereich von Pollen zugesetzt sind oder wenn ein Sensor ausfällt. Diese häufig schleichenden Veränderungen im System erkennt die Software und alarmiert die Betriebsteams. Die Einsparungen an Energie durch Etalytics sind denn auch nicht unwesentlich. »Je nachdem, wie schlecht die Systeme vorher betrieben wurden, kommen wir durchschnittlich auf 20 bis 50 Prozent Energieersparnis pro Kundenumgebung.« Alle zwei bis drei Minuten werden die Verbräuche aufs Neue betrachtet und bewertet, denn die Faktoren ändern sich ständig. Etwa durch die Umwelt. Bei zehn Grad in der Nacht werden die Maschinen anders betrieben als bei 25 Grad in der Mittagssonne. »Wir prüfen permanent die Anlagenzustände.«
Wir kommen auf durchschnittlich 20 bis 50 Prozent Energieersparnis pro Kundenumgebung.Dr. Niklas Panten, Geschäftsführer von Etalytics
In absehbarer Zukunft will Etalytics auch kleine und mittlere Unternehmen bedienen. Dem Mittelstand, der sich mit dem Thema beschäftigt, rät der Geschäftsführer: »Im ersten Schritt muss man eine digitale Infrastruktur und Transparenz schaffen. Man braucht Sensorik, Zähler und vernetzte Anlagentechnik, um aus relevanten Systemen die Daten zusammenzuführen.« Das lohne sich auch für kleine Unternehmen. »Meistens amortisiert sich die Investition schon nach wenigen Monaten, insbesondere, wenn gezielt auf Optimierungsanwendungsfälle hingearbeitet wird.«
Dieser Artikel ist erstmals erschienen im IHK-Magazin “Wirtschaftsdialoge”, Ausgabe 4/2024. Sie möchten das gesamte Heft lesen? Die “Wirtschaftsdialoge” können Sie seit Oktober 2023 auch online als PDF-Datei herunterladen.
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