Sperrung der Riedbahn

Wenn kein Zug fährt

Die zwingend nötige Generalsanierung der Riedbahn mit fünfmonatiger Sperrung führt uns vor Augen, wie kaputt die Infrastruktur in Südhessen ist. Das hat Auswirkungen auf Pendler und Unternehmen.
Text: Matthias Voigt, Februar 2024
Stell dir vor, du bist auf die Bahn angewiesen. Und dann fährt sie nicht mehr. Du musst auf den Ersatzverkehr ausweichen. Und brauchst plötzlich doppelt so lange zur Arbeit. Nur für den Hinweg. Eine Erfahrung, die Anfang dieses Jahres etliche Pendler machen mussten, die ansonsten die Ried- bahn zwischen Frankfurt und Mannheim nutzen. Denn die Strecke war komplett gesperrt.
Riedbahnsperrung Karte
Die Riedbahn (rot) wird ab Juli 2024 gesperrt. Der Fern- und Güterverkehr wird linksrheinisch über die Ludwigsbahn und in Hessen über die Main-Neckar-Bahn entlang der Bergstraße umgeleitet. © Deutsche Bahn
Doch die Flaute an den Bahnhöfen war nur ein Vorgeschmack dessen, was im zweiten Halbjahr 2024 auf Pendler und Unternehmen in Südhessen zukommt. Vom 15. Juli bis 14. Dezember werden alle Signale auf Rot gestellt, weil auf der rund 70 Kilometer langen Strecke nichts mehr geht. Die Deutsche Bahn hat angekündigt, die Riedbahn einer Generalsanierung zu unterziehen. Die komplette Strecke soll auf Vordermann gebracht werden, um für die Zukunft gerüstet zu sein – und zwar in einem Rutsch.
Das größte Infrastrukturprogramm seit der Bahnreform im Jahre 1994 steht an, in dessen Zuge rund 1,3 Milliarden Euro investiert werden. 152 Weichen werden erneuert, 1.200 Stelleinheiten zu neuen elektronischen Stellwerken umgerüstet, 16 Kilometer Lärmschutzwände erneuert oder komplett neu gebaut, 20 Bahnhöfe und deren Umfelder attraktiver gestaltet. Die Hoffnung ist, dass der Verkehr auf der Strecke im Anschluss an die Generalsanierung über viele Jahre lang wenig störanfällig ist. Weshalb Züge pünktlicher fahren, seltener ausfallen und das Fahrangebot ausgeweitet werden kann, damit die Bahn als klimafreundlicher Verkehrsträger mehr Menschen befördert.

Verspätungen wegen technischer Mängel

Doch warum ist solch ein enormer Kraftakt, der nun bei der Riedbahn betrieben wird, überhaupt nötig? Weil die Schiene zu lange vernachlässigt wurde. Dieser Auffassung ist zumindest Dr. Michael Winnes, seit 2023 Geschäftsführer des Verkehrsverbunds Rhein-Neckar (VRN), zu dem der südliche Teil der Riedbahn ab Groß-Rohrheim gehört. »Infolge der Bahnreform im Jahr 1994 wurde in den vergangenen drei Jahrzehnten völlig unzureichend in das Schienennetz investiert. Das bekommen wir nun in aller Härte zu spüren: Wir werden im Schienenverkehr mit einer in weiten Teilen maroden Infrastruktur konfrontiert«, sagt Winnes. Die zahlreichen Verspätungen und Ausfälle sieht er als Folge einer Vielzahl technischer Mängel. Er nennt beispielhaft Probleme mit Signalen, Weichen und Oberleitungen. Aber auch die Überlastung der Infrastruktur allgemein führe zu Unannehmlichkeiten für die Fahrgäste, da inzwischen deutlich mehr Züge verkehrten als das vorhandene Schienennetz eigentlich bewältigen könne.
Etwas überraschend nennt der VRN-Geschäftsführer einen weiteren Grund, den man zunächst nicht für Verspätungen oder Zugausfälle vermuten würde: die Digitalisierung. Oder genauer gesagt: eine unzureichend durchdachte Digitalisierung. Dabei nimmt Michael Winnes die Stellwerke in den Blick. Die vollzogene Digitalisierung der Stellwerke wertet er zwar als Fortschritt. »Aber hier hat das Management der Deutschen Bahn AG die betriebswirtschaftliche Rationalisierung zu weit getrieben«, sagt er.
Die Bahn ist bereits jetzt nicht in der Lage, ihr Angebot zuverlässig aufrechtzuerhalten.

Dr. Michael Winnes

Zu viele Planstellen seien abgebaut worden und es sei versäumt worden, ausreichend Reserven und Springer einzuplanen, die auf verschiedenen Stellwerken eingesetzt werden können. Dadurch verschärfe sich das Ausfallrisiko in Ausnahmesituationen, weil weniger Personal in den freien Schichten vorhanden sei, auf das man im Notfall zurückgreifen kann. Winnes schlussfolgert: »Intelligente Digitalisierung darf daher nicht die Resilienz des Systems beeinträchtigen, wie es leider bei den Stellwerken geschehen ist.« Seine Forderung an den Infrastrukturvorstand der DB AG: »Es muss dringend ein regionaler Fahrdienstleister- pool in den Stellenplan aufgenommen werden, dessen Mitglieder auf alle Stellwerke in der Region geschult und dort flexibel einsetzbar sind.«
Doch selbst wenn das Budget dafür vorhanden wäre, lässt sich ein weiteres Problem nicht so einfach lösen: der Fachkräftemangel. Schon jetzt fehlten Lokführer*innen, Ingenieur*innen, Handwerker*innen und Mitarbeiter*innen an Stellwerken. Zahlreiche offene Stellen können derzeit nicht besetzt werden, sagt der VRN-Geschäftsführer. Auch zeichne sich der Busfahrermangel immer stärker ab.

2027 ist die Main-Neckar-Bahn dran

Zwar dreht die Deutsche Bahn nun an der Riedbahn das große Rad und investiert. Doch es wird noch etliche Jahre dauern, bis auch die anderen Haupt- und Nebenstrecken ertüchtigt werden. Stand jetzt soll die Main-Neckar-Bahn entlang der Bergstraße von Frankfurt über Darmstadt nach Heidelberg im Jahr 2027 generalsaniert werden. Die nächste Belastungsprobe für Pendler.
Von oben betrachtet zeige sich derzeit eine paradoxe Situation: »Jeder fordert eine Verkehrswende und es wird eine Verdoppelung der Fahrgastzahlen im ÖPNV angestrebt. Dabei ist die Bahn bereits jetzt nicht in der Lage, ihr gegenwärtiges Angebot zuverlässig aufrechtzuerhalten«, sagt der VRN-Geschäftsführer Michael Winnes. Schweren Herzens sehe er daher aktuell auch im VRN die Ausdünnung des Fahrplans als einzige Möglichkeit, den ÖPNV überhaupt anbieten zu können.
Catalina Gruß
Catalina Gruß, Personalberaterin bei Workflow plus © Colima
Dabei sind viele Arbeitskräfte auf den ÖPNV angewiesen, wie Catalina Gruß aus ihrer täglichen Arbeit weiß. Sie arbeitet seit 2019 als Personalberaterin und Nachfolgerin beim Personaldienstleister Workflow plus, der in Darmstadt und in Bensheim beheimatet ist. »Eine funktionierende Infrastruktur ist für uns ein Riesenthema«, sagt Gruß, die sich ehrenamtlich als Sprecherin der Wirtschaftsjunioren Darmstadt-Südhessen engagiert. Workflow plus arbeite viel mit gewerblich-technischen Hilfskräften zusammen, die selbst kein Auto haben und den ÖPNV nutzen müssen. »Etwa 80 Prozent unserer Angestellten sowie Bewerber, die wir direkt an Unternehmen vermitteln, sind auf Bus und Bahn angewiesen.«
Die meisten unserer Angestellten sind auf Bus und Bahn angewiesen.

Catalina Gruß

Daher rücke bei der Vermittlung von Personal die Lage von Unternehmen stärker in den Fokus. Bei schlechter Anbindung an den ÖPNV reduziere sich auch der Pool an potenziellen Fachkräften, da sie meist nicht länger als eine halbe Stunde Anfahrtsweg zur Arbeitsstätte in Kauf nähmen und meist nicht weiter weg als 15 bis 20 Kilometer vom Wohnort arbeiten möchten.
Typische Berufe der vom Darmstädter Unternehmen vermittelten Arbeitskräfte sind Logistikmitarbeiter, Fachkräfte oder kaufmännisches Personal. Durch die Abhängigkeit von Bus und Bahn ergäben sich für diese Personen mehrere Probleme: »Der ÖPNV funktioniert jetzt schon schlecht. Wenn die Lokführer streiken oder Züge stark verspätet sind oder ganz ausfallen, rufen die Mitarbeiter an und sagen, dass sie nicht zur Arbeit kommen können.« Darunter leide die Wirtschaftskraft von Unternehmen und damit auch die Region.
Aus ihren Gesprächen mit den Arbeitskräften weiß die Personalberaterin, dass Pendler aus Klimaschutzgründen verstärkt vom Auto auf Bus und Bahn umsteigen möchten. Doch wenn diese unzuverlässig fahren oder der Schienenersatzverkehr doppelt so lange oder noch länger braucht wie die reguläre Verbindung, dann sind viele eben doch wieder auf das Auto angewiesen. »Zumal in der Produktion, wenn Fachkräfte im Schichtbetrieb arbeiten. Der duldet keine Verspätungen«, sagt Gruß.
Viele der Kunden von Workflow plus wohnen in den Randgebieten von Städten oder auf dem Land, weil die Wohnpreise stark gestiegen und die Mieten dort noch einigermaßen bezahlbar sind. »Doch so wird es schwierig, diese Leute auch zu vermitteln, wenn die Anfahrtszeit immer länger wird, weil man ohne Auto nicht weit kommt«, gibt die Personalberaterin zu bedenken. »In größeren Städten wie Darmstadt ist die Infrastruktur deutlich besser, doch wenn man aufs Land kommt, wird es schwierig.«
Zwar nicht auf dem Land, aber doch eher in einer Kleinstadt ist Bürstadt Furniture ansässig. Nur wenige Hundert Meter vom Bahnhof entfernt werden hier Woche für Woche unzählige Schränke und Einlegeböden für einen schwedischen Möbelgiganten hergestellt. Montags bis freitags im Dreischichtbetrieb. »Wir fahren eine stark verkettete Produktion, da muss ein Zahnrad ins andere greifen«, sagt Geschäftsführer Dirk-André Schenk. Verspätungen in der Belegschaft seien da störend.

Der Warenverkehr läuft über die Straße

Dirk-André Schenk
Dirk-André Schenk, Geschäftsführer von Bürstadt Furniture © Bürstadt Furniture
Doch Anfang Januar, als die Riedbahn für vorbereitende Arbeiten schon einmal für drei Wochen komplett gesperrt wurde, habe sich das nicht negativ auf die Pünktlichkeit der Arbeitskräfte ausgewirkt, versichert Schenk. »Viele Mitarbeiter haben sich zusammengetan und Fahrgemeinschaften gebildet.« Daher sei die einzige Folge gewesen, dass die Parkplatzsituation auf dem Werksgelände angespannter als sonst gewesen sei. »Mehr Leute als üblich kommen mit dem Auto«, sagt Schenk. Als Vorteil erweist sich für Bürstadt Furniture, dass ein Großteil der rund 600 Köpfe starken Belegschaft aus der unmittelbaren Umgebung kommt. »Etliche Mitarbeiter aus Bürstadt machen sich zu Fuß oder mit dem Fahrrad auf den Weg zu uns.«
Wir fahren eine stark verkettete Produktion, da muss ein Zahnrad ins andere greifen.

Dirk-André Schenk

Was den Warenverkehr angeht, bereitet dem Geschäftsführer die bevorstehende Sperrung der Riedbahn von Juli bis Dezember keine Sorgen. Zwar liegen auf dem Werksgelände in der Industriestraße nach wie vor Schienen. Doch dass diese zur Anlieferung genutzt wurden, ist Jahrzehnte her. Heute wird alles über die Straße abgewickelt. Das Bürstädter Unternehmen beliefert direkt Filialen des Möbelunternehmens in Deutschland, Österreich, der Schweiz und Frankreich. »Etwa 60 Lkw verlassen täglich unser Werk, in etwa genauso viele zählen wir im Wareneingang«, sagt Schenk. Die Struktur der Lieferanten sei zu heterogen, als dass es sich lohnen würde, Papier, Holz und Beschläge in Zügen auf den Weg nach Bürstadt zu schicken.
Damit die Verkehrswende gelingt, müsse das Schienennetz schnell und umfassend ausgebaut werden, sagt VRN-Geschäftsführer Michael Winnes. Und fordert die politischen Entscheidungsträger auf, dafür die nötigen Mittel bereitzustellen. »Wir scheitern tagtäglich an der chronischen Unterfinanzierung der Schiene«. Mit einigem Sarkasmus fügt er hinzu: »Die Schuldenbremse und die Haselmaus sind der Politik offenbar immer noch wichtiger als eine funktionierende Bahn.«
Betriebliches Mobilitätsmanagement: Wenn Sie bei sich im Unternehmen ein Betriebliches Mobilitätsmanagement aufbauen oder verbessern möchten, erhalten Sie hier Anregungen und Unterstützung.

Workflow Plus: Das Unternehmen im Bereich Personaldienstleistungen hat seinen Hauptsitz in Darmstadt, ein weiterer Standort befindet sich in Bensheim. Insgesamt beschäftigt der Personalvermittler acht Personen, hinzu kommen rund 150 angestellte Fachkräfte, meist aus dem gewerblich-technischen Bereich, die von Workflow plus an Dritte überlassen werden, umgangssprachlich als Zeitarbeit bekannt. Das Unternehmen feierte kürzlich sein 20-jähriges Bestehen. www.workflowplus.de

Der RMV: Der Rhein-Main-Verkehrsverbund (RMV) ist einer der größten seiner Art in Deutschland. Zwar hat sich die Verkehrsleistung im RMV seit seiner Gründung im Jahr 1995 verdoppelt. Das Schienennetz vergrößerte sich in dieser Zeit jedoch nur um ein Prozent. Daher sagt Prof. Knut Ringat, Geschäftsführer des RMV: »Nur mit einem Schienennetz in Top-Zustand und zusätzlichen Gleisen können wir mehr und pünktlichere Züge anbieten.« Dass Bus und Bahn gerne von Fahrgästen angenommen werden, zeige das Deutschland-Ticket. Allein im RMV gibt es rund 310.000 Abonnent*innen.

Eine immer größere Bedeutung kommt On-Demand-Verkehr zu. Im RMV-Verbundgebiet sind rund 150 elektrische On-Demand-Shuttles in zehn Gebieten unterwegs, gleichbedeutend mit der größten Flotte in Deutschland. Mit dem »HeinerLiner« ergänzen die Shuttles auch in Darmstadt das klassische Bus- und Bahnangebot. Statt nach festem Fahrplan und Linienweg fahren die Shuttles nach Buchung zur vereinbarten Zeit und auf Basis der von den Fahrgästen gebuchten Start und Zielorte auf direktem Weg.

On-Demand-Angebote kommen dort zum Einsatz, wo die Anzahl der Fahrgäste nicht zu klassischen Bus- oder Bahnlinien passt. Seit dem Start im Jahr 2019 haben mehr als eine Million Fahrgäste das On-Demand-Angebote genutzt. www.rmv.de

Infos zum Ersatzverkehr: Ab dem 15. Juli 2024 wird die Riedbahn für rund fünf Monate gesperrt. Alle Reisemöglichkeiten und Angaben zum Ersatzverkehr sind bereits seit Oktober 2023 in den elektronischen Auskunftsmedien wie dem DB Navigator oder unter www.bahn.de hinterlegt. Unter bahn.de/ersatzverkehr-riedbahn finden sich außer sämtlichen Fahrplänen zudem genaue Beschreibungen. Für eine gute Orientierung in den Stationen und in deren Umfeld sorgen über 600 Plakate sowie mehrere Tausend Meter lange Bodenaufkleber mit Wegeleitungen zu den 90 Ersatzhaltestellen. Mit Beginn der Bauarbeiten sind an größeren Haltepunkten Reisendenlenker*innen im Einsatz, die die Fahrgäste ebenfalls unterstützen.
Matthias Voigt
Bereich: Kommunikation und Marketing
Themen: IHK-Magazin, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit