„Unser Ziel sollte es sein, junge Menschen zu befähigen, Entscheidungen zu treffen und ein eigenständiges Leben zu führen“
Durch die Coronakrise ist die berufliche Orientierung an Schulen nahezu zum Erliegen gekommen. Welche Folgen hat das für junge Menschen und für die Wirtschaft? Wir sprechen mit Peter Schug, Schulleiter der Heinrich-Emanuel-Merck-Schule in Darmstadt, und Christian Jöst, Vizepräsident der IHK Darmstadt und Geschäftsführer des Ausbildungsbetriebes Jöst Abrasives.
Autorin: Jule Mott / Profilwerkstatt, 12. April 2021
Peter Schug, Schulleiter der Heinrich-Emanuel-Merck-Schule in Darmstadt
© Uwe Sickinger
IHK: Herr Schug, Sie sind Schulleiter der Heinrich-Emanuel-Merck-Schule (HEMS) in Darmstadt und vereinen in Ihrem Haus Berufsschule, Berufsfachschule, höhere Berufsfachschule, Fachschule für Technik, Fachoberschule und berufliches Gymnasium. Welchen Stellenwert hat für Sie persönlich die berufliche Orientierung an Schulen?
Peter Schug: Berufliche Orientierung hat für mich einen sehr hohen Stellenwert. Wer den für sich passenden Beruf findet, ist nicht nur hochmotiviert bei der Arbeit. Er hat auch die beste Voraussetzung, ein zufriedenes Leben zu führen. Schule leistet damit einen wichtigen Beitrag für die Gesellschaft, aber auch für die Wirtschaft.
Wie sah es an Ihrer Schule vor Corona aus: Auf welche Berufsorientierungsangebote konnten Ihre Schüler zurückgreifen?
Peter Schug: Es gab eine breite Palette an Angeboten, jeweils zugeschnitten auf die einzelnen Schulformen: Praktikumsvermittlung, die Joblinge, die Zukunftswerkstatt, Betriebsbesuche, Bewerbungstraining, Schnuppertage, den Girls' Day, Besuche von Messen und anderen Veranstaltungen … Im Prinzip hatten wir alles im Programm, was den Schülern den beruflichen Alltag möglichst nahebringt.
Wie stellt sich die Situation seit Corona dar? Welche Möglichkeiten haben Ihre Schüler momentan, um sich zu informieren, wie es nach dem Abschluss weitergeht?
Peter Schug: Wir mussten zunächst alle Präsenzkontaktveranstaltungen in ihrer üblichen Form absagen. Wo möglich, haben wir schulformspezifisch einzelne Angebote den Vorgaben entsprechend angepasst. Partner wie die IHK, die Wirtschaftsverbände, aber auch Betriebe und die Arbeitsagentur bieten mittlerweile eine riesige Vielfalt an digitalen Alternativen an. Gerade diese Vielfalt erschwert es allerdings einigen, ein für sie geeignetes Angebot zu finden.
Kommen die Schüler denn nicht gut mit den digitalen Angeboten zurecht?
Peter Schug: Hier gibt es ein klares Gefälle, wobei wir in der Berufsfachschule die größten Zugangsschwierigkeiten haben. Das geht schon bei der Infrastruktur los und betrifft nicht nur die Angebote zur Berufsorientierung, sondern auch den Distanzunterricht ganz allgemein. Die technischen Voraussetzungen dafür waren zu Beginn des ersten Lockdowns zwar bei 85 Prozent der Schüler gegeben. Bei einkommensschwächeren Familien haben jedoch Endgeräte gefehlt. Die haben wir mit Tablets versorgt. Doch das nächste Problem: Nicht jeder hat zu Hause Internet. Diese Schüler konnten dann unter Einhaltung der Hygienemaßnahmen in die Schule kommen und dort arbeiten.
Ist die Technik die einzige Herausforderung oder gibt es weitere Barrieren?
Peter Schug: Manche Schüler sind schon recht reif und wissen, was sie im Leben wollen. Andere sind einfach noch nicht so weit. Diejenigen, die sich von sich aus für die Schule und ihre berufliche Zukunft interessieren, sind nicht das Problem. Die lernen auch zu Hause und finden sich in den digitalen Angeboten gut zurecht. Unreife Jugendliche hingegen müssten eigentlich intensiv durch unser Lehrpersonal betreut werden. Diese Schüler während der Phasen des Distanzunterrichts zu erreichen, ist jedoch sehr schwierig. Wir können und dürfen uns nun mal nicht in die Kinderzimmer beamen. Was die Berufsorientierung betrifft, kommt hinzu, dass die Angebote auf freiwilliger Basis wahrgenommen werden. Damit das mehr Schüler machen, müssten wir meiner Erfahrung nach die Angebote modernisieren, denn diese sind vielfach im Allgemeinen nicht sehr attraktiv.
Herr Jöst, eben wurden schon die digitalen Berufsorientierungsmaßnahmen angesprochen, die unter anderem die IHK Darmstadt anbietet. Sie selbst sind zudem Geschäftsführer eines Ausbildungsbetriebes. Wie erleben Sie die aktuelle Situation und die Nachwuchssuche?
Christian Jöst, Vizepräsident der IHK Darmstadt und Geschäftsführer von Jöst Abrasives
© T. Mardo
Christian Jöst: Es wird grundsätzlich immer schwieriger, die passenden Fachkräfte in der Region zu finden. Das ist eine Entwicklung, die die Unternehmen und die IHK schon vor Corona umgetrieben hat. Wir fürchten, dass in Zukunft deutlich zu wenig Menschen einen Ausbildungsberuf erlernen werden. Diese Entwicklung hat sich durch Corona verschärft: Die Zahl der neuen Ausbildungsverträge ist im Ausbildungsjahr 2020/21 im Vergleich zum Vorjahr um 15 Prozent gesunken. Den Betrieben fehlt dadurch ein erheblicher Prozentsatz junger Menschen, die ins Berufsleben einsteigen.
Worin sehen Sie die Ursache?
Christian Jöst: Es gibt junge Menschen, die viel Orientierung brauchen, und nicht jeder hat ein Elternhaus, das unterstützen kann. Es herrscht eine enorme Unsicherheit. Viele fragen sich, ob sie eine Ausbildung beginnen sollten. Gibt es das Hotel, das Restaurant oder das Geschäft, in dem ich gerne anfangen möchte, nächstes Jahr überhaupt noch? Es wird viel über Insolvenzen berichtet. Was leider nicht berichtet wird: Es gibt Branchen und Sparten, die auch in Coronazeiten ganz normal weiterlaufen, und zwar gut. Sie bieten sichere Jobs und hervorragende Karrierechancen.
Es fehlt also an positiven Ausblicken?
Christian Jöst: Die berufliche Orientierung ist an vielen Schulen seit Beginn der Coronakrise nahezu komplett weggebrochen. Weil sie freiwillig ist, konzentrieren sich die meisten Schulen aktuell darauf, im Distanzunterricht den Lehrstoff einigermaßen gut durchzubekommen. Doch berufliche Orientierung ist wichtig, um Perspektiven aufzuzeigen. Ohne Orientierungsangebote wissen junge Menschen nicht um die Karrierechancen, die die berufliche Bildung bietet. Viele haben sich im vergangenen oder auch in diesem Ausbildungsjahr daher für den vermeintlich sichereren Weg entschieden, im schulischen System zu verbleiben oder erst mal ein Studium zu beginnen. Fakt ist jedoch: Nicht jeder kann und sollte studieren. Das führt letztendlich nur zu mehr Abbrechern. Auch besteht am Arbeitsmarkt ein höherer Bedarf an beruflich Qualifizierten als an Akademikern. Ein Studium ist also keine Garantie, danach auch sicher einen Job zu finden.
Welches Gefühl hinterlässt es bei Ihnen, wenn Sie hören, dass Berufsorientierung an vielen Schulen seit rund einem Jahr so gut wie nicht mehr stattfindet?
Christian Jöst: Mir bereitet das große Sorgen. Als Ausbildungsbetrieb versuche ich, meinen Teil zu leisten, indem ich beispielsweise weiterhin Praktika anbiete. Es gibt Betriebe, die lassen aus Angst vor Infektionen niemanden in die Firma. Aber wenn ich möchte, dass der Nachwuchs seine eigene Zukunft gestaltet, muss ich ihn dabei auch unterstützen. Die jungen Leute brauchen die Chance, irgendwo reinschnuppern zu können. Aber – da bin ich ganz bei Herrn Schug – ich sehe durchaus die Schwierigkeiten, die Jugendlichen zu erreichen. Bis heute (Stand: 10. März 2021) haben über 2.500 Personen an virtuellen Angeboten der IHK zur Berufsorientierung teilgenommen. Wöchentlich kommen rund 300 dazu. Das ist durchaus ein Erfolg. Die, die es am dringendsten bräuchten, die erreichen wir digital nur eingeschränkt. Doch wir brauchen auch diese Jugendlichen. Die Babyboomer gehen bald in Rente – und dann? Unser duales Ausbildungssystem ist weltweit anerkannt und viel gelobt. Wer in Deutschland eine Berufsausbildung gemacht hat, kann überall auf der Welt arbeiten. Das müssen wir irgendwie auch in die digitalen Klassenzimmer bringen und die richtigen Impulse setzen, um Verunsicherungen entgegenzuwirken.
Herr Schug, können Sie die Sorge der Wirtschaft nachvollziehen, dass Corona die Nachwuchssuche zusätzlich erschweren wird?
Peter Schug: Unternehmen haben ja schon vor Corona erkannt, dass sie sich aktiv um Nachwuchs kümmern müssen. Das Problem hat sich jetzt noch zusätzlich verschärft. Einmal sind alle Schüler versetzt worden, und viele haben sich durch Corona dazu entschieden, erst mal weiter zur Schule zu gehen. Das sind teilweise die 15 Prozent, die dem Arbeitsmarkt fehlen.
Inwiefern könnte eine intensivere Berufsorientierung helfen?
Peter Schug: Die digitalen Angebote zur beruflichen Orientierung werden in erster Linie von den guten Schülern genutzt. Die sind motiviert, die wollen was mit ihrem Leben anstellen. Das sind aber nur rund 40 Prozent. Die restlichen 60 Prozent sind mit ihrer jetzigen Situation zufrieden: Ihre sozialen Bedürfnisse sind gestillt, sie werden zu Hause mit Essen und frischer Wäsche versorgt, sie haben gar keinen Drang, zu arbeiten. Und diese 60 Prozent erreiche ich einfach nicht aus der Distanz heraus. Wir haben noch keine Strategie entwickeln können, um diese „abwesenden“ Schüler zu motivieren. Die bisherigen Konzepte funktionieren für die guten Schüler. Für die anderen brauchen wir einfach den Austausch von Mensch zu Mensch, sonst klappt es nicht. Und der findet leider auch innerhalb der Familien immer weniger statt. Früher haben Eltern, Onkel oder Tanten Orientierung geben können, das ist heute auch nicht mehr in dem Maße gegeben. Wir orientieren uns mit unseren Konzepten zu sehr an den Starken, wir müssen uns Face to Face mehr um die Schwachen kümmern.
Christian Jöst: Aber ist es denn nicht auch Aufgabe der Schule, diese Vermittlungsarbeit zu leisten? Wodurch wird das aktuell erschwert?
Peter Schug: Selbstverständlich gehört zu unseren Aufgaben als Schule auch, einen gesellschaftlichen Auftrag zu erfüllen und die Persönlichkeitsentwicklung zu unterstützen. Dieser Beitrag stand bisher aber nie im Fokus der Prüfungsordnungen oder der Rahmenpläne und muss beziehungsweise wird von den Lehrkräften nebenbei erledigt. Wobei ich hier präzisieren möchte: Mit welchem Engagement jemand an die Sache herangeht, ist von Lehrkraft zu Lehrkraft unterschiedlich. Viele hängen sich da richtig rein, auch während Corona. Für andere ist Berufsorientierung kein Prüfungsinhalt, also wird es hintenangestellt – gerade jetzt, wenn man „irgendwie“ die Unterrichtsinhalte vermitteln soll.
Christian Jöst: Ich kann das schon verstehen. Ich sehe das bei meiner Tochter. Sie geht in die 2. Klasse, und wenn das Zoom-Meeting läuft, muss immer jemand dabei sein und zusehen, dass sie aufpasst. Die Kleinen können ja nicht stillsitzen. Ich will gar nicht wissen, wie das bei 16-Jährigen aussieht. Mir ist die Belastung also durchaus bewusst. Dennoch ist mein Eindruck: Aktuell wird in den Schulen nur noch der Stoff vermittelt und die Berufsorientierung wurde komplett fallen gelassen. Da sagen uns Lehrkräfte, dass sie Wichtigeres zu tun hätten als Berufsorientierung! Welche Aufgabe hat denn Schule? Wenn sie junge Menschen zu mündigen, verantwortungsvollen Persönlichkeiten erziehen möchte, gehört es dazu, sie zu der Entscheidung zu befähigen, welchen nächsten Schritt sie in ihrem Lebens- und Arbeitsweg gehen. Ohne Berufsorientierung ist es für Schüler ungleich schwieriger, für sich zu entscheiden, wie es nach der Schule weitergehen soll.
Herr Schug, was muss sich ändern, damit die Berufsorientierung im Schulalltag den Stellenwert bekommt, den sie bei Ihnen persönlich schon hat?
Peter Schug: Die schwachen Schüler, denen die Reife fehlt, brauchen Zeit, Beratung, Unterstützung, Hilfe – das ist so in der Schule nicht vorgesehen. Darum muss die Berufsorientierung fest im System verankert werden, wie der reguläre Unterrichtsstoff auch. Das Problem ist, dass die Berufsorientierung keine ordentliche Lobby hat – zumindest nicht im Kultusministerium. Ich könnte mir ein Anreizsystem vorstellen. In England gibt es das bereits: Dort erhalten Schulen Boni, wenn die Schüler drei Jahre nach ihrem Abschluss fest im Beruf stehen. Lehrer werden bei uns gerne gerügt, aber selten gelobt. Wir brauchen einfach Rückmeldungen von außerhalb. Haben wir die Schüler ordentlich entlassen? Erweisen sie sich als fit für die Arbeitswelt? Das fehlt bisher.
Das klingt, als ginge es um mehr, als den passenden Beruf zu finden.
Peter Schug: Es geht tatsächlich um einiges mehr. Wir brauchen eine intensive Analyse der Ist-Situation. Viele Jugendliche haben kaum noch den Drang dazu, eigenständig ihr Leben in die Hand zu nehmen. Warum ist das so? Wie können wir die Eigenlernmotivation steigern? Wir müssen dahinkommen, in Richtung Stärken und Schwächen zu beraten. In die Prüfungsinhalte wird immer mehr reingepackt, die Persönlichkeitsentwicklung wird hintenangestellt – das ist nicht der richtige Weg. Wir müssen vielmehr die Lerninhalte auf den Prüfstand stellen. Darauf aufbauend gehört eine individuelle Karrierebegleitung von Eltern, Betrieben und Schule dazu, zum Beispiel mit der IHK als zusammenführendem Gremium.
Corona hat offengelegt, dass wir systematische Veränderungen brauchen. Doch das wird nicht von heute auf morgen realisiert werden. Was müsste kurzfristig passieren?
Peter Schug: Wir müssen die schwachen Schüler wieder in die Schule holen, damit wir sie noch erreichen können. Ohne Präsenz geht es nicht. Wir haben schon kleinere Aktionen in der Schule von engagierten Lehrern, die mit kleinen Gruppen oder einzelnen Schüler Berufsorientierung durchführen. Aber das reicht bei Weitem nicht. Auch in Pandemiezeiten müssen die Schulen geöffnet bleiben, dafür braucht es ein Konzept. Das sind kurz- und mittelfristi
ge Lösungen. Langfristig plädiere ich dafür, die Strukturen an Schulen aufzubrechen. Wir brauchen eine intensivere Begleitung der Schüler im Lernprozess und eine individuelle Betreuung. Zudem stelle ich das Prinzip der Zentralprüfungen infrage. Unser Ziel sollte es sein, junge Menschen zu befähigen, Entscheidungen zu treffen und ein eigenständiges Leben zu führen. Was sagen Noten dabei überhaupt aus?
Berufsorientierung stärken
Damit auch Eltern ihre Kinder bei der Berufswahl unterstützen können, bietet die IHK Darmstadt verschiedene Beratungsangebote an. Dazu gehören regelmäßige Online-Sprechstunden. Alle Angebote für Eltern finden Sie unter: www.darmstadt.ihk.de/elternberatung
Damit auch Eltern ihre Kinder bei der Berufswahl unterstützen können, bietet die IHK Darmstadt verschiedene Beratungsangebote an. Dazu gehören regelmäßige Online-Sprechstunden. Alle Angebote für Eltern finden Sie unter: www.darmstadt.ihk.de/elternberatung
Kontakt
Annette Adamczyk
Bereich:
Aus- und Weiterbildung
Themen: Berufliche Orientierung, Kooperation Schule-Unternehmen
Torsten Heinzmann
Teamleiter
Bereich: Aus- und Weiterbildung
Themen: Team Ausbildung, Ausbildungsberatung für kaufmännische Berufe