Digitale Strategie für Hessen

„Zum Silicon Valley Europas weiterentwickeln“

Die hessische Ministerin für digitale Strategie und Entwicklung, Prof. Dr. Kristina Sinemus, spricht im Interview mit dem Hessischen Industrie- und Handelskammertag (HIHK) darüber, wie sie Hessen zu einem Musterland der Digitalisierung machen möchte.
Autoren: Melanie Dietz, Alexander Rackwitz, 10. März 2020
HIHK: Frau Ministerin, Sie sind nun seit gut einem Jahr im Amt und als Seiteneinsteigerin in die Politik gegangen. Wie oft haben Sie den Wechsel aus der Wirtschaft in die Politik bereut?
Prof. Dr. Kristina Sinemus: Bereuen ist der falsche Begriff, es ist eine völlig neue Herausforderung. Es war eine bewusste Entscheidung, aber auch ein mutiger Schritt aus der eigenen Komfortzone heraus. Die Wege zwischen Politik und Wirtschaft müssen durchlässiger werden. Beide Seiten können viel voneinander lernen und sollten sich gegenseitig besser verstehen. Unser verbindendes Ziel lautet: Fit für die Digitalisierung und die Zukunft zu sein.
HIHK: Was hatte für Sie als Unternehmerin im Bereich Digitalisierung Priorität? Hat sich das mit Ihrem Rollenwechsel geändert?
Prof. Dr. Kristina Sinemus: Als Unternehmerin hatte ich eine gewisse Ungeduld bei der Umsetzung von Projekten. Spätestens seit ich Ministerin bin, weiß ich: Die Gründlichkeit der Verwaltung und das Spezialwissen, das hier existiert, sind wichtig und positiv. Das sehe ich auch beim Aufbau meines Ministeriums: Wir planen Haushaltsgelder, bauen ganz neue Bereiche auf, benötigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das geht nicht von heute auf morgen, aber wir sind auf einem sehr guten Weg und haben schon viel erreicht.
HIHK: Vermissen Sie etwas an Ihrer Rolle als IHK-Präsidentin?
Prof. Dr. Kristina Sinemus: Als IHK-Präsidentin hat es mir unheimlich viel Spaß bereitet, die Wirtschaftsregion im Blick zu haben und für sie Repräsentantin in unterschiedlichen Gremien zu sein. Unter meiner Präsidentschaft haben wir in Darmstadt eine eigene Säulenstrategie entwickelt. Diese klare Strategie übergeben zu müssen, hat mir ein Stück weit leidgetan, aber ich bin auch sehr stolz auf das Erreichte, denn es geht vor allem darum, die regionale Wirtschaft voranzubringen.
HIHK: In den letzten Monaten haben Sie pressewirksam einige Förderbescheide übergeben. Sie signalisieren: Beim Breitbandausbau, bei 4G, bei 5G geht es voran. Gleichzeitig gibt es auch noch Lücken und Ausbaubedarf. Wie bringen Sie den Ausbau der digitalen Infrastruktur in Hessen konkret voran?
Prof. Dr. Kristina Sinemus: Wir investieren so viel Geld in den Gigabit- und Mobilfunkausbau in Hessen wie nie zuvor. Im Rahmen unserer Gigabitstrategie investieren wir insgesamt 270 Millionen Euro in den Gigabitausbau, plus 50 Millionen zum Schließen weißer Flecken im Mobilfunk. 2019 haben wir Fördervolumina von rund 75 Millionen Euro bereitgestellt.
Beim Glasfaserausbau werden Gewerbegebiete, Schulen, Krankenhäuser und öffentliche Einrichtungen priorisiert. Die Erschließung von Gewerbegebieten wird dabei mit weiteren 100 Millionen Euro bezuschusst. Schon heute verfügen 91Prozent aller Haushalte in Hessen über einen Breitbandanschluss von mindestens 50 MBits, drei von vier sogar über einen von mindestens 200 MBits. Bis spätestens 2025 wollen wir flächendeckend Gigabit- und bis 2030 Glasfaseranschlüsse bereitstellen.
Da sind wir schon auf einem guten Weg. Der Vorteil der Digitalisierung für die Menschen in Hessen zeigt sich auch durch den Ausbau des Mobilfunknetzes. Durch die Modernisierung von 1.828 und den Neubau von 139 Mobilfunkmasten bis zum Jahreswechsel wurde bereits jetzt ein spürbarer Mehrwert für die hessischen Bürgerinnen und Bürger bei der Mobilfunkabdeckung erreicht. Die Überarbeitung der Hessischen Bauordnung wird zusätzlich unterstützend wirken. Davon erhoffen wir uns eine deutliche Vereinfachung der Genehmigungsverfahren.
HIHK: Wie sieht es mit den ländlichen Regionen Hessens aus? Auf dem Weg von Kassel nach Frankfurt ist mobiles Arbeiten nur schwer möglich. Wann wird sich das ändern?
Prof. Dr. Kristina Sinemus: Der ländliche Raum ist und bleibt ein besonders wichtiger Förderschwerpunkt für uns. Noch verbliebene Mobilfunklöcher schließen wir schnellstmöglich. Hier sind wir allerdings auch auf die Netzbetreiber angewiesen. Das Land Hessen investiert dort, wo die Privatwirtschaft nicht investiert. Mit 50 Millionen Euro schafft das Land Hessen 300 neue Mobilfunkstandorte, die hauptsächlich im ländlichen Raum liegen. Zudem haben wir eine Mobilfunkförderrichtlinie auf den Weg gebracht, die sich gegenwärtig im Rahmen des Notifizierungsverfahrens zur Abstimmung bei der Europäischen Kommission befindet.
HIHK: Die Kompetenzzentren Mittelstand 4.0 unterstützen kleine und mittlere Unternehmen bei der Digitalisierung, auch in Hessen mit dem Zentrum in Darmstadt. Welche Perspektive haben die Kompetenzzentren nach Auslaufen der Bundesförderung?
Prof. Dr. Kristina Sinemus: Zunächst einmal haben die Kompetenzzentren kürzlich eine zweite Bundesförderung erhalten. Diese läuft bis Ende Februar 2021. Das Zentrum in Darmstadt ist in meinem Ministerium ressortiert. Neben den Bundesmitteln werden wir auch Landesmittel investieren, um die Beratungsleistung in ganz Hessen zur Verfügung zu stellen. Denn der hessische Mittelstand hat weiterhin Bedarf für Integrationsberatung rund um die Digitalisierung.
HIHK: Es existiert eine breite Förderlandschaft in Hessen. Digi-Berater, Digi-Check, Digi-Zuschuss, Digiscouts. Was fehlte oder fehlt aus Ihrer Sicht?
Prof. Dr. Kristina Sinemus: Förderinstrumente sind kein Selbstzweck. Wir haben daher genau analysiert, ob und wo es weiteren Förderbedarf gibt. Aus dieser Analyse heraus haben wir unser neues Förderprogramm „Distr@l“ entwickelt. Sowohl in seiner Höhe, Breite als auch Tiefe ist unser Programm Distr@l einzigartig. Mit einem Volumen von rund 40 Millionen Euro handelt es sich in der hessischen Historie um das größte im Bereich der Digitalisierung. Wir haben es bewusst breit aufgestellt, um sowohl kleine und mittlere Unternehmen in deren digitaler Transformation als auch junge Unternehmen beim Aufbau neuer digitaler Innovationen zu unterstützen.
HIHK: Wo steht Hessen bei der Digitalisierung im internationalen Vergleich mit Hotspots wie dem Silicon Valley oder Tel Aviv?
Prof. Dr. Kristina Sinemus: In der Metropolregion Rhein-Main haben wir rund 14.000 Unternehmen im Bereich Informations- und Kommunikationstechnik mit etwa 140.000 Arbeitsplätzen. Das ist ein Nukleus, den wir zum Silicon Valley Europas weiterentwickeln können. Ich sehe Hessen mit der Dichte an Forschungszentren, mit dem größten Datenknotenpunkt Europas und mit dem Flughafen als Mobilitätsdrehkreuz als hervorragenden Standort. Wir brauchen uns, auch im internationalen Vergleich, nicht zu verstecken.
HIHK: Wie passt das mit dem bestehenden Beratungsbedarf bei der Umsetzung der Digitalisierung zusammen?
Prof. Dr. Kristina Sinemus: Die Herausforderungen sehe ich vor allem bei kleineren und mittleren Betrieben. Für sie ist es nicht einfach, sich an wandelnde Kundenansprüche anzupassen und Wertschöpfungsketten umzustellen. Hier wollen wir beratende Unterstützung ermöglichen, um die regionale Wirtschaft und den Standort Hessen zu stärken.
HIHK: In Hessen sind 20 Professuren für Künstliche Intelligenz geplant. In Bayern aber sogar 100. Gibt es in Hessen ressortübergreifend zu wenig Schwung bei dem Thema?
Prof. Dr. Kristina Sinemus: Das sehe ich nicht so. Gemeinsam mit dem Hessischen Wissenschafts- und dem Hessischen Wirtschaftsministerium haben wir aktuell die Ausschreibung für ein Kompetenzzentrum für Künstliche Intelligenz initiiert, von dem wir uns große Impulse erwarten.
HIHK: Worauf sind Sie als Ministerin stolz?
Prof. Dr. Kristina Sinemus: Wir haben in Hessen etwas aufgebaut, das kein anderes Bundesland hat: Ein neues Digitalministerium mit moderner Organisationsstruktur, das 1,2 Milliarden Euro Landesmittel verwaltet und eine Strategie auf den Weg gebracht hat. Das eine Bündelungs- und Querschnittsfunktion hat und alle Aktivitäten zum Ausbau, zur Finanzierung und zur Regulierung der digitalen Infrastruktur zusammenfasst. Gleichzeitig haben wir bereits große Erfolge beim Ausbau von Breitband und Mobilfunk vorzuweisen und mit Distr@l ein neues Förderinstrument etabliert. Für uns spielt wertebasierte Digitalisierung eine wichtige Rolle. Daher haben wir ein Hessisches Kompetenzzentrum für verantwortungsbewusste Digitalisierung gegründet. Denn nach meiner Überzeugung muss Digitalisierung dem Menschen dienen, nicht umgekehrt.
HIHK: Was wünschen Sie sich von der hessischen Wirtschaft?
Prof. Dr. Kristina Sinemus: Ich wünsche mir eine noch engere Zusammenarbeit und Verzahnung bei den Themen Fachkräftesicherung und Digitalisierung. Hier erhoffe ich mir Impulse von der Wirtschaft, eventuell auch bei gemeinsamen Runden Tischen. Vorstellen kann ich mir auch konkrete, wertschöpfungsintegrierte Projekte bei der Umsetzung von Digitalisierung in Unternehmen. Dieses Land braucht mutige Unternehmerinnen und Unternehmer. Deshalb wünsche ich mir auch mehr Mut: Mut, etwas auszuprobieren, Dinge unkonventionell zu machen, den eigenen Standort zu loben und nicht nur Probleme zu sehen. Wenn wir das beherzigen, werden wir mit der Digitalisierung noch schneller vorankommen.
Zur Person: Prof. Dr. Kristina Sinemus ist seit Januar 2019 Hessische Ministerin für Digitale Strategie und Entwicklung. Die gebürtige Darmstädterin gründete 1998 das Unternehmen Genius als geschäftsführende Gesellschafterin. Seit 2011 ist sie Professorin für den Fachbereich Public Affairs an der Quadriga Hochschule Berlin. Von 2014 bis 2019 war sie Präsidentin der IHK Darmstadt Rhein Main Neckar, von 2017 bis 2019 Vizepräsidentin des HIHK. Seit 2018 ist Prof. Dr. Kristina Sinemus Landesvorsitzende des Wirtschaftsrates Hessen.
Dr.Daniel Theobald
Geschäftsbereichsleiter
Bereich: Unternehmen und Standort