„Normalisierung im Geschäftsbetrieb ist Hilfsprogrammen vorzuziehen“
Besondere Herausforderungen im Gastgewerbe, Hoffnungsschimmer für den Tourismus und Unklarheit bei der Refinanzierung der Staatshilfen – der hessische Wirtschaftsminister, Tarek Al-Wazir, sprach Anfang Mai in einem Interview mit dem Hessischen Industrie- und Handelskammertag (HIHK) über die Lage der hessischen Unternehmen in der Corona-Krise.
Autor: Alexander Rackwitz, 7. Mai 2020
Der hessische Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir
© HMWEVW / Oliver Rüther
HIHK: Herr A-Wazir, wie erleben Sie die gegenwärtige Situation rund um die Corona-Pandemie in Hessen?
Tarek Al-Wazir: Es ist eine Situation, die wir so noch nie hatten. Das übertrifft die Finanzkrise oder auch die Ölkrise der 70er Jahre. Wir mussten in sehr vielen Bereichen der Wirtschaft und der Gesellschaft innerhalb von einer Woche von hundert auf nahezu null bremsen. Das Virus ist ein externer Faktor, der alle betrifft, Hessen mit seinem hohen Anteil beispielsweise der Mobilität an der Wirtschaftsleistung besonders stark. Momentan schauen wir von Tag zu Tag, denken von Woche zu Woche. Und fragen uns angesichts der Entwicklung der Infektionszahlen, welche weiteren Lockerungen möglich sind. Der Druck von allen Seiten ist immens. Je besser die Infektionslage wird, umso mehr steigt er. Es ist einfach zu sagen, wir machen alles zu. Aber es ist schwierig zu entscheiden, wie und was man schrittweise wieder lockern kann. Denn eines ist klar: Corona und die Auswirkungen werden uns noch Jahre beschäftigen.
Die Corona-Soforthilfe hat ein historisches Ausmaß. Gleichzeitig sieht die Wirtschaft noch Nachbesserungsbedarf, beispielsweise bei der Auszahlungsschnelligkeit, der Anerkennung von Personalkosten zur Begründung des Liquiditätsengpasses und für Soloselbständige ohne laufende Betriebskosten. Wird es hier zu Korrekturen kommen?
Wir haben mehrfach versucht, den Bund wenigstens von der Anrechnung der Pfändungsfreigrenze als Einkommen bei den Soloselbständigen ohne große Betriebskosten zu überzeugen. Das will der Bund nicht. Weil wir zu einem großen Teil Bundesgelder auszahlen, müssen wir uns daran halten. Änderungen sind wohl nicht mehr zu erwarten. Leider ist der Bundesregierung bei der Anrechnungsfrage ein Kommunikationsfehler unterlaufen. Hinsichtlich der Liquiditätshilfen hat man bei Soloselbständigen falsche Erwartungen geweckt. Es wurde nicht klar gesagt, dass die Hilfe aus drei Säulen besteht: Aus den Soforthilfen als Zuschuss für die betriebliche Liquidität, aus dem verbesserten Zugang zu Krediten über die KfW und aus dem deutlich erleichterten Zugang zur Grundsicherung.
Bei der Frage der Schnelligkeit kommt es auf die Perspektive an. Für einen Gastwirt, der aufgrund der behördlichen Anordnung keinen oder kaum noch Umsatz hat, ist jede Stunde zu viel. Sorgen und Panik sind völlig verständlich. Aus Sicht des Landes Hessen haben wir schnell gehandelt. Innerhalb von nur zwei Wochen haben wir die Soforthilfe aufgesetzt – inklusive Gesetzentwurf, -beschluss und Administration. Seit dem 30. März können Anträge für die Soforthilfe eingereicht werden. Innerhalb von fünf Wochen haben wir 120.000 Anträge entgegengenommen, davon sind mehr als 70 Prozent bewilligt, 800 Millionen Euro sind ausgezahlt worden. Wir haben ein betrugssicheres digitales System. Ich bin beeindruckt, wie gut und wie schnell das funktioniert. Ich bin auch sehr dankbar dafür, dass Industrie- und Handelskammern und Handwerkskammern bei der Beratung unterstützen. Mit etwas Distanz betrachtet, fahren wir in Hessen ganz gut.
Manche Branchen wie das Gastgewerbe, der Tourismus und die Veranstalter und Messen werden wohl noch lange leiden. Überlegen Sie spezielle Konzepte für eine Unterstützung dieser besonders gebeutelten Branchen?
Natürlich, momentan ist die Situation katastrophal. Gastronomie und Tourismus liegen am Boden. Wir diskutieren intensiv über die Frage, ob und wie man dort seitens des Landes helfen muss. Die Lage ist aber komplex und die Entwicklungen können sehr unterschiedlich sein. Wenn dieses Jahr Millionen Menschen nicht nach Spanien und Italien in den Urlaub fahren werden, dann könnte es zu einem großen Ansturm auf innerdeutsche Ziele, vielleicht sogar im ländlichen Raum, kommen. Diese Destinationen könnten möglicherweise eine gute Auslastung, wenn nicht sogar eine 100-Prozent-Auslastung erreichen. Das macht Hoffnung und das wünschen wir uns. Es gibt wiederum andere Bereiche, die vermutlich noch das ganze Jahr leiden werden. Denken Sie nur an die Geschäfte, die in Frankfurt bisher davon gelebt haben, dass im Jahr 500.000 chinesische Touristen gekommen sind.
Die schnellen Finanzhilfen haben den Absturz der Wirtschaft abgefedert, aber nicht aufgehalten. War es richtig, dass die Politik über Wochen scheinbar nur noch den Virologen gefolgt ist?
Wir haben es mit dem zu tun, was die Soziologen das Präventionsparadox nennen. Wir haben Mitte März gesehen, was in Italien und Spanien los ist. Was passiert, wenn man nicht rechtzeitig handelt, aus welchem Grund auch immer. Damals lauteten die Prognosen: Wenn wir nichts tun, dann werden wir in drei bis fünf Wochen in genau der gleichen Situation sein. Also haben wir drastisch und erfolgreich reagiert. Die Überlastung des Gesundheitssystems wurde vermieden, die Totenzahlen, die Krankenzahlen sind mit die niedrigsten in Europa. Erfolgreiche Prävention zeigt sich in vermiedenen Schäden, die sind aber nicht sichtbar. Deutschland ist mit am besten auf der Welt durch diese Krise gekommen. Bei allen damit verbundenen Kosten und großen Schwierigkeiten kann man das erst mal nur gut finden.
Die Landespolitik definiert bisher sehr spezifisch, wer öffnen darf und wer nicht. Mit den Infektionsrisiken ist das nicht immer direkt zu begründen. Läuft die Politik Gefahr, sich am Mikromanagement zu verheben? Wäre es nicht zielführender, klare Kriterien zu definieren – und Betriebsöffnungen denjenigen zu ermöglichen, die diese einhalten?
Wir befinden uns in einer nie dagewesenen Situation, für die es keine Blaupause gibt. Da kann nicht alles perfekt sein. Und es kommt auch auf das Auge des Betrachters an. Natürlich ist aus Sicht eines großen Kaufhauses klar, dass man auf 2.000 Quadratmetern Verkaufsfläche mehr Menschen mit Abstand verteilen kann als auf 800. Als Regierung haben wir uns aber bei den ersten Lockerungen nicht nur Gedanken über die Frage gemacht, was im Geschäft passiert, sondern auch außerhalb. Wie die Menschen zu den Geschäften kommen und ob auch dort Abstände eingehalten werden können oder ob es zu Gedränge in der Innenstadt kommt. Und manchmal kommt es dann zu Verschärfungen, die am Ende dazu beitragen, dass man an anderer Stelle lockern kann. Ein Beispiel ist die Pflicht zum Mund-Nase-Schutz in öffentlichen Verkehrsmitteln und Geschäften. Und das gibt dann die Möglichkeit für weitere Öffnungen.
Weshalb dürfen die Betriebe des Gastgewerbes nicht unter den strengen Auflagen zu Hygiene, Kundendichte und Abständen, die für den Einzelhandel gelten, öffnen?
Die Gastronomie ist mit der schwierigste Bereich. Erstens weil es dort mit dem Mund-Nase-Schutz schwer ist. Gastronomie lebt von der Nahrungs- und Getränkeaufnahme. Außerdem, wenn Sie sich die großen Ausbruchsherde in Deutschland und Europa ansehen, hatte vieles davon mit Gastronomie und Feierlichkeiten zu tun: Après-Ski in Ischgl, Karneval in Heinsberg, Starkbieranstich in Tirschenreuth. Im Gastgewerbe haben wir es mit einem sensiblen Bereich zu tun. Wenn dort etwas passiert, ist der potenzielle Schaden riesig. Aber ich kann Ihnen versichern: Es ist jetzt Anfang Mai und wir arbeiten sehr konkret daran, dem Gastgewerbe Perspektiven zu bieten und gleichzeitig die Erfolge bei der Eindämmung der Pandemie nicht zu riskieren.
Stichwort Kurzarbeitergeld für Azubis: Unternehmen, die Kurzarbeit angemeldet haben, müssen für ihre Auszubildenden sechs Wochen die volle Ausbildungsvergütung bezahlen. Erst nach dieser Frist können sie für ihre Azubis Kurzarbeitergeld beanspruchen. Wird Hessen zur Verbesserung ein eigenes Programm auflegen?
Ich setze mich momentan dafür ein, dass wir eine bundeseinheitliche Regelung erhalten. Dass also die Auszubildenden vom ersten Tag an Anspruch auf Kurzarbeitergeld haben; sie sind ja auch sozialversicherungspflichtig beschäftigt und zahlen ein. Das Problem ist, dass die Arbeitnehmerseite angesichts der vergleichsweise niedrigen Ausbildungsvergütung im Vergleich zu einem normalen Gehalt auf einer Gewährung von 100 Prozent besteht. Ein kluger Kompromiss wäre: Anspruch auf die 60 beziehungsweise 67 Prozent Kurzarbeitergeld vom ersten Tag an und gleichzeitig müssen Arbeitgeber dann 40 oder 33 Prozent aufstocken. Ein solcher Kompromiss ist wichtig für die Betriebe und die Auszubildenden. Und er wäre ein wichtiges Signal für den Herbst und würde verdeutlichen: Wir haben Betriebe, die sich weiter in der Ausbildung engagieren und die Fachkräfte der Zukunft selbst ausbilden. Darauf setze ich.
Die Kommunen leiden unter dem weitgehenden Ausfall der Gewerbesteuereinnahmen. Braucht es jetzt ein Konjunkturprogramm für die Rettung der Kommunen?
Auch da ist die Situation sehr unterschiedlich. Das Land Hessen wird den Kommunen dieses Jahr 6 Milliarden Euro aus dem kommunalen Finanzausgleich überweisen. Dieses Geld geht überproportional an die ärmeren Kommunen. Die reichen Kommunen sind aber diejenigen, die gerade jetzt die großen Gewerbesteuerausfälle haben. Hinzu kommt: Für eine Kommune, die vor allem von der Grundsteuer lebt, ändert sich nichts. Wer vor allem von der Gewerbesteuer lebt, hat ein großes Problem. Deshalb muss man jede einzelne der 422 hessischen Städte und Gemeinden betrachten und jeweils überprüfen, wo ist Hilfe nötig und wo nicht.
Gibt es schon klare Überlegungen, wie das Land Hessen die Staatshilfen refinanzieren wird?
Nein, die gibt es noch nicht. Wir wissen noch gar nicht, wie unsere Finanzlage sein wird. Mitte Mai wird die Steuerschätzung vorliegen und dann wissen wir ungefähr, wo wir dieses und nächstes Jahr stehen werden. Unser Problem: Wir steigern die Ausgaben durch notwendige Hilfsprogramme gerade deutlich und sorgen gleichzeitig dafür, dass die Einnahmen etwa durch großzügige Steuerstundung und die Rückzahlung von vorausgezahlten Umsatzsteuern sinken und haben gleichzeitig eine zurückgehende Wirtschaftsleistung. Das wird zu einem riesigen Delta führen, das wir mit Schulden decken müssen. Am Ende wird man eine Bilanz ziehen und den Schaden auf der staatlichen Seite begutachten. Es ist noch fraglich, wie man ihn wieder tilgt. Aber es ist völlig klar, dass das irgendjemand bezahlen muss.
Sollten die Steuern dafür eher rauf oder runter?
Diese Riesenlöcher wird man sicher nicht durch Steuersenkungen stopfen. Die Annahme, dass durch Steuersenkung so viel mehr wirtschaftliche Aktivität entsteht, dass am Ende mehr Geld in der Kasse ankommt, ist reichlich theoretisch. Ab einem bestimmten Steuersatz wird nichts mehr stimuliert. Sondern das führt nur noch dazu, dass der Staat pleite ist.
Die IHK-Organisation hat kürzlich ein Papier veröffentlicht, das konkrete Vorschläge der Wirtschaft zu digitalen Lösungen in der neuen Corona-Normalität enthält. Was halten Sie von Vorschlägen wie lokalen digitalen Plattformen für den Einzelhandel oder Ticket-Systemen zur Steuerung des Personenaufkommens?
Gerade lernt die ganze Gesellschaft in einem Crash-Kurs die Möglichkeiten der Digitalisierung zu nutzen. Vieles von dem, was wir da erleben, wird uns erhalten bleiben. Mein Wunsch ist, dass auch der stationäre Einzelhandel die großen Chancen eines guten Online-Standbeins während und nach der Krise nutzt und lokale Kundenbindung über das Netz organisiert. Da passiert derzeit schon viel und das wird sich noch mehr durchsetzen. Digitale Ticketsysteme und Ähnliches sind eine gute Idee. Gerade, wenn es um Veranstaltungen und Messen geht, werden wir viele der digitalen Lösungen brauchen. Solange es noch keinen Impfstoff gibt, können wir nur so halbwegs normal mit Corona leben.
Viele hessische Unternehmen sind exportstark und leiden unter dem krisenbedingt schwachen Welthandel. Braucht es eine Förderung des Auslandsgeschäfts?
Nein, in der Außenwirtschaft braucht es aus meiner Sicht keine große staatliche Förderung. Die Unternehmen achten selbst sehr genau darauf, was wieder möglich ist. Ich bin mir sicher: Die Unternehmen werden, sofern es irgendwie geht, an die gewachsenen Geschäftsbeziehungen ins Ausland anknüpfen. Gleichzeitig wird es eine Debatte über die Zerbrechlichkeit globaler Lieferketten geben. Dementsprechend wird es in bestimmten Bereichen die Chance geben, wieder europäischer zu produzieren. Allerdings wird es dann auch teurer werden – das muss jeder wissen.
Das Soforthilfeprogramm des Landes läuft noch bis Ende Mai. Wird es eine Neuauflage geben?
Es gibt viele Überlegungen, sowohl beim Bund als auch bei uns. Aber noch keine Beschlüsse und auch noch nichts Spruchreifes. Einigen Branchen hat die Soforthilfe beim Überleben geholfen und damit ihr Ziel erreicht. Andere Bereiche, von der Veranstaltungsbranche über Kunst und Kultur bis hin zur Gastronomie, werden sicherlich auch Ende Mai noch Probleme haben. Wir beobachten sehr genau, wo man noch mal gezielt weiterhelfen muss. Die Frage, wer weiter Hilfe braucht, hängt damit zusammen, was uns die Infektionslage für weitere Lockerungen erlaubt. Wenn die bisherigen Maßnahmen nicht zu einem großen Ansteigen der Infektionszahlen führen, können wir die nächsten Lockerungsschritte gehen. Größtmögliche Normalisierung im Geschäftsbetrieb ist Hilfsprogrammen immer vorzuziehen. Sie hängt aber von der Entwicklung der Infektionszahlen ab.
Tarek Al-Wazir ist seit Januar 2014 hessischer Wirtschaftsminister. In der aktuellen Legislaturperiode ist er zudem für Energie, Verkehr und Wohnen zuständig. Der gebürtige Offenbacher ist mit kurzer Unterbrechung seit 1995 Mitglied des Hessischen Landtags. Von 2000 bis 2014 war er Vorsitzender der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Landtag, von 2007 bis 2013 Landesvorsitzender seiner Partei.
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