Interview

„Nichts ist wirtschaftlicher als echte Kundenloyalität“

Zukunftsfähige Innenstädte sind multifunktional und schaffen es, einzelne Besuche mit einem deutlichen Mehrwert aufzuladen, sagt Boris Hedde, Geschäftsführer der IFH Köln (Institut für Handelsforschung). Convenience, Service und Erlebnis seien auch das oberste Gebot für den Einzelhandel, so der Handelsexperte im Interview mit der IHK Darmstadt.
Autorinnen: Veronika Heibing, Marina Hofmann
IHK: Herr Hedde, die IFH Köln hat es sich zur Aufgabe gemacht, Wertschöpfung und Kundenbeziehung in Zeiten von Strukturwandel und Digitalisierung zu verstehen und will Unternehmen bei der Entscheidungsfindung und der Etablierung neuer Geschäftsmodelle unterstützen. Wo sehen Sie aktuell die größten Herausforderungen für den stationären Handel?
Boris Hedde: Der stationäre Einzelhandel ist aktuell von einem dreifachen Tsunami getroffen: Strukturwandel, Digitalisierung und jetzt COVID 19 – jeder einzelne Effekt ist schon herausfordernd, im Zusammenspiel potenziert es sich. Geschäftsmodelle der Vergangenheit passen nicht mehr, produktorientierte Kompetenz ist keine Abgrenzungsmerkmal und die Anspruchshaltung der Konsumenten ist im Verlauf in Richtung Bequemlichkeit enorm gestiegen. All dies zwingt dazu, den Neustart-Knopf zu drücken und ein neues Kundenverständnis zu entwickeln und zu bedienen. Hierbei tun sich viele lokale Akteure bisher schwer.
IHK: Das Thema Innenstädte hat für uns einen hohen Stellenwert. Die Situation um Corona hat vielen Bürgerinnen und Bürgern nochmal bewusst gemacht, wie wichtig Ortskerne für das gesellschaftliche Zusammenleben sind, was wir beispielsweise mit unserer Aktion „Heimat shoppen“ genutzt haben, um auf die Bedeutung attraktiver Zentren aufmerksam zu machen. Welche Funktion haben Ortskerne und Innenstädte traditionell und welche Funktion werden sie in Zukunft einnehmen?
Boris Hedde: In der Vergangenheit stand konsumbezogen der Produktbedarf im Fokus. Entsprechend war der Handel das entscheidende Zugpferd. Dort wo Handel war, waren auch die Menschen. Und wo Handel war, siedelten sich andere Anbieter an. Heute, wo nun online Produktverfügbarkeit in nicht gekannter Form gegeben ist, ist bei der Kundenintention zu differenzieren. Zwar ist Shopping in der Studie Vitale Innenstädte 2018 weiterhin Motiv Nummer 1, um in die Stadt zu kommen. Gastronomie, Soziale Interaktion, Freizeit und Kultur bis hin zu Behördengängen oder Arztbesuchen haben aber an anteiliger Relevanz bei den Besuchen gewonnen. Entsprechend ist es jetzt die Aufgabe, die Zentren noch multifunktionaler zu gestalten und dies auch zu kommunizieren – erst recht mit Blick auf die überall messbare rückläufige Besuchsfrequenz. Jene Städte, die es schaffen, einzelne Besuche mit Mehrwert aufzuladen, werden ihre Bedeutung erhalten und ausreichend Kundenwert für das kommerzielle Angebot bereithalten. Das gesellschaftliche Zentrum Innenstadt wird dabei weiterhin eine große Bedeutung haben. Mit Corona vielleicht sogar etwas noch mehr, weil nach Social Distancing soziale Nähe stärker nachgefragt sein wird. Klar ist dabei aber auch, dass lokal ein Transformationsprozess aktiv angegangen werden muss.
IHK: Welche Rolle spielen Innenstädte für den Tourismus, speziell in ländlicheren Regionen? Wie tragen sie dazu bei, das touristische Gesamtangebot zu stärken – und wie können sie das in Zukunft tun?
Boris Hedde: Ich würde diese Frage andersherum stellen. Glücklich schätzen dürfen sich jene Kommunen, die touristischen Mehrwert bereithalten. Auf der Suche nach Funktionen für Zielgruppen ist hier ein großer Hebel zu finden. In unseren Studien schneiden bei der Attraktivität gerade jene Standorte besonders gut ab, die touristisch punkten können. Dabei ist von Vorteil, dass in der Regel mit touristischem Mehrwert architektonische und gestalterische Elemente positiv auf das Ambiente und Flair laden. Gerade diese Faktoren sind Toptreiber bei der Bemessung der Standortattraktivität. Das wird in all unseren Studien deutlich. Für kleinere Kommunen und ländlichere Gemeinden, denen naturgemäß die Angebotsvielfalt fehlt, kommt dem Thema Tourismus nochmals mehr Bedeutung zu.
IHK: Wir sprechen oft davon, dass es einen Kümmerer für die Belange einer attraktiven Innenstadt geben muss. Wie schätzen Sie das ein? Werden an so einen Kümmerer zu viele Erwartungen gestellt oder braucht es eine koordinierende Stelle für die Erlebniswelt Innenstadt?
Boris Hedde: Die Kümmererfunktion ist essenziell. Gerade wenn unterschiedliche lokale Akteure koordiniert werden müssen und eine interdisziplinäre Arbeit gefordert ist, braucht es eine zentrale Rolle bzw. eine Person die Verantwortung trägt. Je größer der Standort ist, desto mehr muss sich die Frage gestellt werden, ob eine personenbezogene Funktionsübernahme reicht oder ob nicht eine Institution dafür geschaffen werden muss.
In Köln beispielsweise hat sich ein Verein gegründet, der unterschiedliche Interessensgemeinschaften vertritt und die Rolle des Kümmerers stadtweit übernimmt. Hier werden Projekte erdacht, konzipiert und umgesetzt, die möglichst vielen lokalen Akteuren zugutekommen sollen. Gleichzeitig ist der Verein das zentrale Sprachrohr zu Stadt und weiteren mittelbaren Stakeholdern.
IHK: Wenn wir Innenstädte nachhaltig stärken wollen, braucht es die aktive Zusammenarbeit vieler – die Politik, die Unternehmen und auch die Konsumenten haben in ihrem Handeln Einfluss darauf, wie lebendig und attraktiv die Ortskerne sind. Was hat speziell der Einzelhandel selbst in der Hand? Wie muss er sich aufstellen, um auch weiterhin Besucher in die Innenstädte und in die Geschäfte zu ziehen?
Boris Hedde: Was im Großen gilt, gilt auch im Kleinen. Unter dem Stichwort Erlebnis und Convenience sind Services und Erlebnisse bereitzuhalten, die von Kunden her gedacht sind. Hier kommt auch der Digitalisierung eine große Bedeutung zu. Denn entlang der Visitor Journey, also von der Impulsphase, über die Informationsphase bis hin zur Aufenthalts- und Bindungsphase, sind Lösungen zu entwickeln, die der Zielsetzung Kundenzentrierung Rechnung tragen. Vielfach ist dies nicht von einzelnen Handelsunternehmen zu leisten. In diesem Fall bietet sich Kooperation an. Diese Kooperation kann innerhalb einer Branche über Verbundorganisationen erfolgen oder über lokal ausgerichtete Kooperation, bei der sich Vertreter unterschiedlicher Geschäftsfelder und Branchen vor Ort zusammentun. Welche Maßnahmen jeweils primär zu realisieren sind, leitet sich im besten Fall von einer vorgelagerten, ehrlichen und gemeinsamen Evaluation von Stärken und Schwächen ab.
Selbstredend besteht an den Handel die Forderung, nicht mehr nur stationär zu agieren, sondern auch im digitalen Kontext vertreten und engagiert zu sein. Auch hier kann lokale Kooperation ein Schlüssel sein.
IHK: Bei all den rasanten Veränderungen, wissen insbesondere kleine Handelsbetriebe oft nicht, wo sie anfangen sollen. Wenn Sie dem Handel in der Innenstadt in der jetzigen Zeit eine goldene Regel mit auf den Weg geben könnten, welche wäre das?
Boris Hedde: Egal wie gut eine Idee erscheint, wenn sie nicht aus Kundensicht hergeleitet ist, muss sie hintenangestellt werden. Jetzt ist das Zeitalter der höchstmöglichen Kundenzentrierung, jetzt gilt es, den Kundenerwartungen alles unterzuordnen. Auch wenn es anfangs so scheinen mag, dass die Erwartung der Kunden in einem spezifischen Moment keine Wirtschaftlichkeit ermöglicht, so wird ein grundsätzliches Umschwenken zu einer nachhaltig besseren Wirtschaftlichkeit des gesamten Handelsunternehmens führen. Denn nichts ist wirtschaftlicher als echte Kundenloyalität!
Nele Freund
Bereich: Unternehmen und Standort
Themen: Handel, Standortmarketing, Stadtmarketing