Internationaler Handel

Das weltweite Krisenbarometer steigt

Kriege, Krisen und protektionistische Tendenzen sorgen zunehmend für Unsicherheit und erschweren den internationalen Handel. Mit welchen Strategien sich südhessische Unternehmen am weltweiten Markt behaupten – und welchen Rat sie der Politik gerne geben würden.
Text: Matthias Voigt
Mit dem inoffiziellen Titel des „Exportweltmeisters“ schmückte sich nicht nur die deutsche Politik jahrelang gerne, sondern auch die Wirtschaft. Mittlerweile haben zwar China und die USA den Deutschen den Rang abgelaufen. Doch zur Wahrheit gehört auch: Deutschland belegt aktuell Platz drei und ist noch immer eine der Top-Nationen im weltweiten Handel. Im vergangenen Jahr exportierte die hiesige Wirtschaft Waren im Wert von 1.590 Milliarden Euro. Der Exportüberschuss lag bei rund 210 Milliarden Euro. Damit gehört die stärkste Wirtschaftsnation der EU zu den größten Gewinnern der globalen Arbeitsteilung.
Trotzdem hat sich in letzter Zeit die Stimmung eingetrübt. Dabei geben das die nackten Zahlen erstaunlicherweise gar nicht her. Denn der weltweite Handel nimmt weiter zu. Im Jahr 2022 wurden weltweit Exporte im Wert von cirka 24,9 Billionen US-Dollar verschifft, mit dem Zug transportiert oder per Flugzeug und Lastwagen geliefert – ein neuer Rekordwert. Zum Vergleich: Im Jahr 2000 lag das Niveau mit 6,4 Billionen US-Dollar noch deutlich niedriger. Doch das internationale Geschäft ist komplizierter geworden. So sind einige Staaten zur lange Zeit verpönten Industriepolitik zurückgekehrt, die mit Hilfe von Subventionen bestimmte nationale Industrien unterstützt und gegen ausländische Konkurrenz abschirmen mochte. Geopolitische Spannungen, Handelskriege und der Angriffskrieg Russlands in der Ukraine betreffen Gebiete, über die komplexe Wertschöpfungsketten verlaufen. Neue Allianzen bilden sich, etwa von China mit Ländern entlang der neuen Seidenstraße. Anderswo werden Handelshürden hochgezogen. Alte Gewissheiten bröckeln, die Welt ist im Wandel.

Realer Export und Import sinken

Einen Überblick, mit welcher Stimmungslage die deutsche Wirtschaft auf den internationalen Handel blickt, liefert die Studie „World Business Outlook“, die mithilfe einer Umfrage bei Mitgliedsunternehmen der Deutschen Auslandshandelskammern, Delegationen und Repräsentanzen erstellt wurde. Sie fasst die Rückmeldungen von 4.300 deutschen Unternehmen im Frühjahr 2024 zusammen. Demnach ist das Bild der hiesigen Wirtschaft zwiegespalten. Nach ihrer Einschätzung ist die allgemeine wirtschaftliche Lage alles andere als rosig – doch es zeigt sich ein leichter Aufwärtstrend. Die globalen Lieferketten funktionieren trotz der anhaltend ungewissen Sicherheitslage im Roten Meer. Zudem sind die Inflationsraten in vielen fortgeschrittenen Volkswirtschaften gesunken, sodass dort erste Zinssenkungen ab der zweiten Jahreshälfte möglich sind. Auch der private Konsum kann sich positiv entwickeln dank sinkender Inflationsraten und gestiegener Löhne. Als Risiko stufen die befragten Unternehmen die Spannungen im Nahen Osten ebenso ein wie die nachfrageseitige Schwäche der chinesischen Wirtschaft.
Auch in Südhessen zeigt sich ein getrübtes Bild. Zwar blieben die hessischen Exporte 2023 nach vorläufigen Zahlen mit rund 80,3 Milliarden Euro nahezu gleich im Vergleich zum Vorjahreszeitraum (minus 0,2 Prozent). Importiert wurden Waren im Wert von 122,2 Milliarden Euro (minus 8,3 Prozent). Doch der Anschein trugt: „Dass die nominalen Werte sowohl beim Export als auch beim Import noch stabil sind, ist inflationsbedingt. Es sind die höheren Material-, Energie- und Logistikkosten, die für höhere Preise im Ein- und Verkauf sorgen. Aber die Menge der tatsächlich exportierten und importierten Waren, also der reale Export und Import, ist gesunken“, sagt Axel Scheer, Experte für Außenhandel in der IHK Darmstadt.
Der gemeinsame Binnenmarkt ist einer der größten dynamischen Märkte der Welt.

Harald Lochmann, Geschäftsführer von Erlenbacher

Harald Lochmann
Harald Lochmann, Geschäftsführer von Erlenbacher Backwaren GmbH © IHK Darmstadt/ Roger Richter
Der Lebensmittelhersteller Erlenbacher ist auf vielfältige Weise international im Geschäft. Das lässt schon das selbstgewählte Motto erahnen, das da heißt: „Erlenbacher geht um die Welt“. Besonders stark ist Erlenbacher in Österreich, Spanien und Skandinavien vertreten. Diese Länder gelten für den Hersteller von Torten, Kuchen und Schnitten als die umsatzstärksten im Ausland. „Große Mengen exportieren wir aber auch nach Mittelosteuropa, die Schweiz und nach Benelux“, sagt Geschäftsführer Harald Lochmann.
Ein Kuchen, der besonders häufig nachgefragt wird, ist der „feinste Apfelkuchen“, der wie alle anderen Produkte auch in Groß-Gerau hergestellt wird. „Das ist regelrecht ein paneuropäisches Produkt“, sagt Lochmann. Die Packungen mit der 2.250 Gramm schweren Leckerei mit extra hohem Fruchtanteil werden quer über den Kontinent geliefert. „Der gemeinsame Binnenmarkt ist einer der größten dynamischen Märkte der Welt“, sagt Lochmann. Die Backwaren können ohne Handelshemmnisse in viele europäische Länder vertrieben werden. Dies eröffne neue Absatzmöglichkeiten und trage zur Stärkung der eigenen Position im internationalen Wettbewerb bei. Von Vorteil seien ebenfalls einheitliche Regelungen im Lebensmittel- und Arbeitsschutz, die das Vertrauen der Kunden förderten. Generell laute die Haltung von Erlenbacher: „Wir sind große Befürworter der EU.“

Torten per Schiff nach Übersee

Was aber nicht ausschließt, dass man auch Kritik äußert. Der Geschäftsführer formuliert es so: „Komplexe und wechselnde EU-Regulierungen bringen bürokratische Hürden mit sich, die unsere Flexibilität einschränken. Europa sollte Rahmenbedingungen schaffen, aber keine Detailregelung vornehmen.“ Die Last der Bürokratie wachse. Hier und da vermisst Harald Lochmann die Verhältnismäßigkeit in der Gesetzgebung. Ob immer stärkere Dokumentationspflichten – etwa bei der Einsparung von Energie – am Ende auch wirklich das erwünschte Ergebnis brächten, bezweifelt er.
Etwa die Hälfte seines Umsatzes erwirtschaftet der Backwaren-Produzent außerhalb Deutschlands. Da der heimische Markt weitgehend gesättigt sei, sieht der Backwaren-Produzent mit seinen derzeit rund 550 Mitarbeiter*innen große Wachstumschancen auf internationalen Märkten. Die USA und Südkorea könnten aus strategischen Überlegungen heraus zu Zielmärkten werden, sagt Lochmann. Auch wenn die Transportwege lang seien, um die tiefgefrorenen Premiumkuchen und -torten per Schiff nach Übersee zu liefern.
Dass der internationale Handel bisweilen risikobehaftet ist und schnelle Entscheidungen verlangt, hat Erlenbacher nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine erfahren. In beiden Ländern machte das südhessische Unternehmen zuvor Geschäfte. „Mit den Kunden in Russland haben wir den Handel sofort eingestellt“, blickt Lochmann zurück. Der bewaffnete Konflikt in der Ukraine brachte weitere Hürden mit sich, etwa Kostensteigerungen bei Energie oder auch bei verschiedensten Rohstoffen.

Vorteil freier Warenverkehr

Zwar bezogen die Groß-Gerauer keine Heidelbeeren direkt aus der Ukraine, gibt Lochmann ein Beispiel. Doch ein Lieferant hatte die Ware von dort bezogen, um eine Fruchtzubereitung herzustellen, die Erlenbacher nutzte. „Dann sind Lieferketten weggebrochen und wir mussten uns neu orientieren“, erinnert sich der Geschäftsführer. Ebenfalls eine negative Folge der weltweiten Unruhen war die steigende Inflation, die sich besonders in strukturschwachen Ländern in zunehmender Kaufzurückhaltung gezeigt habe. „Kuchen ist dann eben doch für viele eher als Luxusgut angesiedelt“, sagt Harald Lochmann.
Etwa 25 Prozent unseres Umsatzes erzielen wir im europäischen Ausland.

Rainer Fischer, Geschäftsführer von Suckow & Fischer

Rainer Fischer
Rainer Fischer, Geschäftsführer von Suckow & Fischer © IHK Darmstadt/ Roger Richter
Im internationalen Vergleich eher im hochpreisigen Bereich angesiedelt sind die Produkte von Suckow & Fischer. Das Metallverarbeitungsunternehmen aus Biebesheim entwickelt und fertigt hochwertige Deckensysteme, Decklagen und Wandverkleidungen. Der Mittelständler beschäftigt derzeit rund 70 Mitarbeiter*innen. „Etwa 25 Prozent unseres Umsatzes erzielen wir im europäischen Ausland“, sagt Geschäftsführer Rainer Fischer. Und zählt die Hauptzielländer auf: Schweiz, Osterreich, Luxemburg, Belgien und die Niederlande.
Suckow & Fischer profitiert von den Vorteilen des EU-Binnenmarktes. „Er ist für uns von unschätzbarem Wert“, sagt Fischer. Und fügt an: „Wenn wir ihn nicht hätten, müsste man ihn erfinden.“ Neben den gängigen Vorteilen wie dem Grundsatz des freien Warenverkehrs nennt der Geschäftsführer das „angenehme Miteinander“ und, dass „kulturelle Werte erhalten und gefördert werden“.
Generell gilt der europäische Binnenmarkt als eine wesentliche Säule des Erfolgs der hessischen Unternehmen. Das zeigen auch die vorläufigen Zahlen des Hessischen Statistischen Landesamts für 2023. Demnach wurden 51,9 Prozent aller Waren in den EU-Binnenmarkt exportiert. Der Wert dieser Waren betrug rund 43,1 Milliarden Euro.
Trotzdem sieht Fischer auch Handelshemmnisse in diesem Markt. Allen voran ausufernde Bürokratie. Die Zeit, die zur Erfüllung immer neuer Auflagen benötigt werde, sähe er lieber genutzt, um Kunden zu betreuen und Umsatz zu generieren. Außerdem nimmt der Geschäftsmann den Trend zur übertriebenen Vereinheitlichung wahr. Dies bringe Nachteile mit sich. „Man sollte jedem Land genügend Freiheit lassen, damit es sich entfalten kann“, ist Rainer Fischer überzeugt.
Auch im außereuropäischen Ausland ist Suckow & Fischer aktiv. Auf etwa fünf bis acht Prozent des Gesamtumsatzes schätzt Rainer Fischer das Volumen; der Ferne Osten gilt als bedeutender Zielmarkt. Die Projekte, an denen das Biebesheimer Unternehmen beteiligt ist, sind bisweilen spektakulär. Am Raumfahrtzentrum im südamerikanischen Französisch-Guayana hat Suckow & Fischer mitgebaut. Die Europäische Weltraumagentur ESA unterhält dort einen Weltraumbahnhof, von dem seit 1979 die Ariane- und Vega-Raketen starten. Oder aber die heiligste Stadt im Islam, das saudi-arabische Mekka. Im dortigen religiösen Zentrum hat das südhessische Unternehmen Deckensysteme eingesetzt.

Qualität gegen Billigkonkurrenz

Der reiche Wüstenstaat gebe sich nur mit höchster Qualität zufrieden. Dadurch könne sich das deutsche Produkt behaupten, auch gegen Ware aus China, die dort als minderwertig angesehen werde. „Die Qualität, die uns in Saudi-Arabien unterstellt wird, wird als hochwertig angesehen“, sagt Rainer Fischer. Das rechtfertige letztlich auch den höheren Preis. Seit Beginn des Jahres 2024 müssten Unternehmen zertifiziert sein, um ihre Waren nach Saudi-Arabien liefern zu dürfen. Die Norm zur Qualitätssicherung orientiere sich dabei stark an deutschen Vorlagen und habe Suckow & Fischer keine Probleme bereitet. Gleichwohl seien seitdem mehrere Mitarbeiter pro Auftrag einen Tag lang gebunden, um Zollunterlagen zu überarbeiten, Daten zusammenzutragen und Fragen zu beantworten.
Auf die vergangenen Jahre rückblickend, mag Rainer Fischer nicht in den Chor der Bedenkenträger einstimmen: „Unser internationales Geschäft ist über viele Jahre hinweg relativ konstant.“ Mit unterschiedlicher Kundschaft ist Suckow & Fischer auf vielfältigen Märkten unterwegs. Weder die Corona-Pandemie noch der Krieg in der Ukraine hätten sich nachteilig auf den Umsatz ausgewirkt.
Sorgenfalten in Bezug auf den Standort Deutschland bereitet dem Unternehmer eine andere Entwicklung: das niedrige Volumen der Direktinvestitionen in Deutschland. Diese Einschätzung teilt auch eine aktuelle Studie, die das Institut der deutschen Wirtschaft Köln veröffentlicht hat. Demnach haben ausländische Unternehmen im Jahr 2023 nur rund 22 Milliarden Euro investiert – so wenig wie seit zehn Jahren nicht mehr. Die Netto-Abflüsse lagen im vergangenen Jahr bei 94 Milliarden Euro. Der Wert gibt die Differenz zwischen Investitionen deutscher Unternehmen im Ausland und ausländischer Unternehmen in Deutschland an. Nur in den beiden Vorjahren 2021 und 2022 war mehr Geld aus Deutschland abgeflossen. Das Institut wertet diese Zahlen nicht als Ausnahmeerscheinungen, sondern als „erste Symptome einer Deindustrialisierung“. In der Tat habe die Produktion im produzierenden Gewerbe im Dezember 2023 deutlich unter den Werten von 2015 gelegen.
Geht es nach Rainer Fischer, sollte die Politik wieder größere Leistungsanreize setzen, um das Arbeiten attraktiver zu machen und so den Standort Deutschland zu stärken. „Das Erfolgsmotto muss lauten: fördern und fordern“, fasst Fischer zusammen.
Außenwirtschaftstag Hessen 2024

Der Außenwirtschaftstag Hessen am 9. Juli in Frankfurt ist die Plattform für alle international tätigen hessischen Unternehmen. Bei dieser Veranstaltung werden die Herausforderungen und Möglichkeiten des internationalen Geschäfts diskutiert. Informieren Sie sich beispielsweise über erste Erfahrungen mit dem CO2-Ausgleichsmechanismus CBAM und neue Strategien zur Sicherung von Lieferketten und der Versorgung mit wichtigen Rohstoffen. Neben diesen Themen hält der Außenwirtschaftstag auch Expertengespräche, Podiumsdiskussionen und Fachvorträge bereit, ebenso eine Fachausstellung. Nicht zuletzt bietet es Ihnen die Möglichkeit, wertvolle Kontakte für Ihr Auslandsgeschäft zu knüpfen.

Weitere Infos und Anmeldung unter:
www.aussenwirtschaftstag-hessen.de
Matthias Voigt
Bereich: Kommunikation und Marketing
Themen: IHK-Magazin, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit