Technologietransferpreis 2024 - KI im industriellen Anwendungsbereich: Sentics und TU Braunschweig gewinnen

„Deutschland ist kein Rohstoffland. Unser Rohstoff ist das, was in den Gehirnen der Menschen ist“, betonte Dr. Ralf Utermöhlen, 1. Stellvertreter des Präsidenten der IHK, gleich zu Beginn seiner Eröffnungsrede treffend. Er vertrat IHK-Präsident Tobias Hoffmann, der aufgrund einer Auslandsreise nicht an der Preisverleihung teilnehmen konnte. Bereits zum 37. Mal wurde die Trophäe für besondere Transferobjekte aus der Wissenschaft in die Wirtschaft vergeben und würdigt den Innovationsgeist und die Fähigkeit, den technologischen Status quo aufzubrechen und zukunftsweisende Wege im Umgang mit betrieblichen Herausforderungen zu etablieren. Seit fast 40 Jahren werden damit in Braunschweig herausragende wissenschaftliche Leistungen geehrt, ohne die der wirtschaftliche Fortschritt erheblich stagnieren würde. Als Sieger vom Platz ging in diesem Jahr das Projekt der KI-unterstützten Echtzeit-Lokalisierung von Objekten im industriellen Anwendungsbereich der Sentics GmbH mit Unterstützung durch Prof. Dr.-Ing. Klaus Dröder vom Institut für Werkzeugmaschinen und Fertigungstechnik der TU Braunschweig.
„Die Qualität der eingereichten Projekte ist in diesem Jahr wieder sehr hoch, was die Auswahl der Finalisten für den Technologietransferpreis für unsere Jury zu einer echten Herausforderung gemacht hat“, sagte Präsident Hoffmann im Vorfeld der Veranstaltung. „Die Jury hat es wieder geschafft, die besten und innovativsten Projekte auszuwählen, die einen echten Mehrwert für die Wirtschaft und unsere Region bieten.“ Im Rahmen eines festlichen Events stellten sich die Finalistinnen und Finalisten mit ihrem Technologietransfer im Kongresssaal der IHK vor. Als Entscheidungsgrundlage für die Prämierung des besten Transfers wurden mehrminütige Videos gedreht, die während des Events ihre Premiere feierten. Doch letztendlich lag die Entscheidung, wer als Gewinner hervorgeht, in den Händen der über 100 geladenen Gäste, die über ihr Smartphone an der Live-Abstimmung teilnehmen durften.
Alle eingereichten Projekte haben gezeigt, dass in unserer Region Hervorragendes
geleistet wird.

Dr. Ralf Utermöhlen

Forschung und Entwicklung allein reichen nicht

Die Bedeutung des Technologietransfers und wie dieser konkret zustande kommt, erläuterte der Kieler Seriengründer und Experte für Technologietransfer RNDr. Stefan Kloth in einer Keynote. Technologietransfer bedeute demnach, Forschung und Entwicklung sowie Innovationen in marktfähige Produkte zu überführen. Dies erfordere nicht nur technologische Expertise, sondern auch das Einbinden von Technologietransferstellen, Patentverwertungsagenturen und Förderprogrammen, die umfassende Unterstützung böten, aber vor allem auch kaufmännische und rechtliche Absicherungsmaßnahmen. „Forschung und Entwicklung sind auf den Technologietransfer angewiesen und umgekehrt“, erläuterte der 55-Jährige. Doch trotz dieser Ressourcen funktioniere der Technologietransfer in Deutschland noch nicht optimal. RNDr. Kloth wies auf eine Reihe von Herausforderungen hin: Es würden zu wenige Patente angemeldet, auch von Hochschulen, und die Bürokratie hemme die Prozesse erheblich.
Um den Technologietransfer zu verbessern, fordert er „mehr Mut zum Regelbruch“. Er verwies auf das Beispiel von Elon Musk, der ohne Baugenehmigung im ­Berliner Umland losgebaut hatte, und regt Unternehmen dazu an, ebenfalls einen goldenen Mittelweg zu finden und trotz zahlreicher Hindernisse voranzuschreiten. ­„Hätten wir damals noch länger auf das Erteilen der Steuer­nummer gewartet und auf allen Rechnungen nicht ‚Steuernummer angefordert‘ eingetragen, wären wir bankrottgegangen“, lautet die einprägsame Anekdote des mehrfachen Unternehmensinhabers.

KI-Thema überzeugt

Dr. Florian Löbermann, Hauptgeschäftsführer der IHK, öffnete um 16:47 Uhr symbolisch den Umschlag mit den Ergebnissen des Votings und übergab schließlich dem Wolfsburger Jungunternehmen den mit 10 000 Euro dotierten Hauptpreis. „Wir sind eine der forschungsstärksten Regionen Europas. Mit der Verleihung des Technologietransferpreises wollen wir auch den notwendigen Mut für Innovationen in unserer Region belohnen, denn es geht dabei auch um unsere Zukunft“, erklärt Dr. Löbermann mahnend.
In Zusammenarbeit entwickelten die Sentics GmbH und Prof. Dr.-Ing. Klaus Dröder eine innovative Basis­technologie für die präzise Echtzeit-Lokalisierung von Objekten in industriellen Anwendungsbereichen. Durch die Verarbeitung von KI-gestützten Kamera-Streams können Sensoren Fahrzeuge und Personen erfassen und kritische Bereiche identifizieren. Im ­Falle gefährlicher Situationen kann das System beispielsweise Fahrzeuge bremsen und Unfälle aktiv verhindern – und im besten Fall Menschenleben retten. „Alle zwei Minuten kommt es in Europa zu einem Unfall mit einem Gabelstapler. Und alle zwei Tage sind die ­Unfälle so schwer, dass jemand stirbt“, erzählt im Anschluss Sentics-Geschäftsführer Sebastian Bienia.

Die anderen Finalisten sind ebenfalls Sieger

Auch wenn die SORMAS Foundation gGmbH in Kooperation mit dem Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung und die PlasmaGreen GmbH in Zusammenarbeit mit der TU Clausthal und der Derichs GmbH nicht den ersten Platz erreicht haben, sind sie dennoch Sieger. Die Nominierung beider Transfers allein zeugt von herausragenden Leistungen, die Anerkennung und Würdigung verdienen. „Alle eingereichten Projekte haben gezeigt, dass in unserer Region Hervorragendes geleistet wird“, betonte Dr. Utermöhlen. SORMAS ist eine Surveillance-Software, die den gesamten Prozess des Kontaktpersonen-Managements digitalisiert. Besonders in der Coronapandemie hat sich gezeigt, wie wichtig ein solches Vorgehen ist. Viele Länder, darunter Deutschland, nutzen immer noch analoge Prozesse, die auf Papier, Fax oder E-Mails basieren. Die Software ermöglicht in Übereinstimmung mit den ­Datenschutzvorgaben eine Echtzeit-Zusammenarbeit aller Beteiligten.
Aus dem Kooperationsprojekt rund um die PlasmaGreen GmbH ging ein kontaktloses Plasmaverfahren hervor, das eine Walzenreinigung im laufenden Betrieb ermöglicht. Ohne rotierende Walzen wären weder die Folien- noch die Druckindustrie denkbar. Damit sie zuverlässig arbeiten, müssen die Walzen regelmäßig gereinigt werden. Bisher war eine manuelle Reinigung mit Produktionsstopp notwendig, was zu Ausfällen und Arbeitsunfällen führte.
„Wir sind das erste Unternehmen, welches diese Technologie gezielt für den umfassenden Schutz von Menschen in der Arbeitsumgebung einsetzt.“

Herr Bienia, herzlichen Glückwunsch zum Gewinn des Technologietransferpreises 2024 der IHK Braunschweig. Welche Bedeutung hat der Preis für Ihr Unternehmen?
Der Gewinn des Technologietransferpreises der IHK Braunschweig ist für Sentics von großer Bedeutung. Zunächst einmal ist dieser renommierte Preis eine wichtige Anerkennung unserer Innovationskraft und unseres Engagements im Bereich der Technologieentwicklung. Er bestätigt, dass unsere Lösungen einen echten Mehrwert bieten. Darüber hinaus stärkt der Gewinn des Preises unser Ansehen und unsere Glaubwürdigkeit. Dies eröffnet uns neue Möglichkeiten für Kooperationen und Partnerschaften und kann dazu beitragen, unsere Marktposition weiter auszubauen. Der Preis wirkt somit wie ein Qualitätssiegel, das Vertrauen bei unseren Kundinnen und Kunden und Geschäftspartnerinnen und Geschäftspartnern schafft. Nicht zuletzt motiviert die Auszeichnung unser Team. Er belohnt die harte Arbeit und das Engagement unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und festigt den Zusammenhalt.

Was genau steckt hinter Ihrer Technologie zur Echtzeit-Lokalisierung anhand von KI?
Unsere Technologie zur Echtzeitlokalisierung basiert auf künstlicher Intelligenz (KI) und ermöglicht die genaue Positionsbestimmung von Objekten oder Personen in Echtzeit. Der Prozess beginnt mit dem Einsatz von Kameras, welche Daten der Umgebung in Echtzeit erfassen. Diese visuellen Informationen werden dann mit KI-Algorithmen datenschutzkonform analysiert, um relevante Merkmale zu extrahieren, wie z. B. die Position, Richtung und Geschwindigkeit von Gabelstaplern. Ein wesentlicher Bestandteil unserer Technologie ist der Einsatz von Deep Learning. Neuronale Netze werden darauf trainiert, komplexe Muster in den Sensordaten zu erkennen und zu interpretieren. Dadurch wird die Genauigkeit und Zuverlässigkeit der Lokalisierung weiter verbessert. Ein herausragendes Merkmal unserer Lösung ist die Erstellung eines digitalen Zwillings der industriellen Umgebung sowie aller relevanten Objekte.

Wie genau erfolgt die Überführung der Technologie in den industriellen Anwendungsbereich?
Der Transfer in die industrielle Anwendung erfolgt durch die Erstellung des eingangs erwähnten digitalen Zwillings in industrieller Umgebung. Dieser bildet die reale Umgebung exakt ab und ermöglicht eine datenschutzkonforme Lokalisierung von Objekten. Durch diese exakte Abbildung können wir Produkte im Bereich der Intralogistik anbieten, die speziell auf die Arbeitssicherheit und Effizienzsteigerung ausgerichtet sind. Unsere Technologie nutzt diesen digitalen Zwilling, um die Position von Personen, Gabelstaplern und anderen Objekten in Echtzeit zu verfolgen. So können potenzielle Gefahren frühzeitig erkannt und Sicherheitsmaßnahmen sofort eingeleitet werden. Insgesamt bietet diese innovative Anwendung eine deutliche Verbesserung der Sicherheit und Effizienz in industriellen Umgebungen, indem sie schnelle Reaktionsmöglichkeiten gewährleistet.

Was unterscheidet Ihre Technologie von anderen, die ein ähnliches Wirkungsfeld haben?
Unsere Technologie unterscheidet sich von anderen in diesem Bereich durch mehrere Alleinstellungsmerkmale. Während Computer Vision zur Verarbeitung von Infrastrukturkameras bereits in verschiedenen Bereichen (Flughäfen, Einzelhandel, etc.) eingesetzt wird, ist ihr Einsatz in der Industrie noch selten. Insbesondere für die Live-Lokalisierung von Personen, Gabelstaplern und anderen Objekten wird Computer Vision bisher kaum eingesetzt. Wir sind das erste Unternehmen, welches diese Technologie gezielt für den umfassenden Schutz von Menschen in der Arbeitsumgebung einsetzt. Ein weiterer Unterschied zu bestehenden Lösungen im Bereich der Indoor-Lokalisierung ist, dass auf zusätzliche technische Geräte/ Wearables (Transponder) verzichtet werden kann. Diese Systeme haben den Nachteil, dass der Schutz verloren geht, wenn eine Person den Transponder nicht bei sich trägt oder die Batterie leer ist. Unsere Technologie hingegen kommt ohne solche Hilfsmittel aus und bietet damit eine zuverlässigere Sicherheitslösung. Darüber hinaus legen wir großen Wert auf den Datenschutz: Es werden keine personenbezogenen Daten verarbeitet, was unsere Methode besonders datenschutzfreundlich macht. Insgesamt bieten wir damit eine innovative, zuverlässige und sichere Lösung für den Schutz von Menschen in industriellen Umgebungen.

Was sind Ihre nächsten Pläne?
Unsere weiteren Pläne konzentrieren sich auf mehrere wichtige Bereiche. Zum einen wollen wir die Weiterentwicklung und Skalierung unserer Technologie vorantreiben, um den breiten, internationalen Markteintritt zu ermöglichen. In diesem Zusammenhang planen wir den Aufbau eines Partnernetzwerks in den Bereichen Vertrieb, Installation und Service, um unsere Reichweite und Effizienz zu erhöhen. Schließlich werden wir vermehrt auf die Stärkung unserer Markenpräsenz setzen, um unsere Marktposition weiter zu festigen und unsere Zielgruppen noch besser zu erreichen. Zum anderen ist der Aufbau unserer Unternehmensstrukturen ein zentrales Anliegen, um eine solide Basis für zukünftiges Wachstum zu schaffen. Unsere Vision ist es, nicht nur Menschenleben zu retten, sondern auch jede industrielle Umgebung mitdenken und reagieren zu lassen.
jk
5/2024