100 Jahre Kehr: Wie ein Familienunternehmen Gesundheit in Apotheken bringt

Als die Pandemie weltweit Schlagzeilen machte und die Sorge vor Engpässen bei lebenswichtigen Medikamenten wuchs, rückten pharmazeutische Großhändler wie die Richard Kehr GmbH & Co. KG ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit. Doch auch täglich greifen unzählige Menschen in Deutschland nach ihrer Medikamentenbox, oft ohne sich bewusst zu sein, dass ihre Arzneimittel nur durch die herausragende logistische Leistung des Braunschweiger Unternehmens zuverlässig verfügbar sind. Seit Gründung vor einem Jahrhundert gewährleistet Kehr die Versorgung mit Medikamenten und bildet das stille Rückgrat der Gesundheitsinfrastruktur.
Der Pharmagroßhändler Kehr spielt eine zentrale Rolle im Gesundheitssystem und trägt eine unverzichtbare Verantwortung. Er koordiniert die Lieferketten von Arzneimittelherstellern zu Apotheken und garantiert, dass Medikamente rechtzeitig und in der richtigen Menge und in einwandfreiem Zustand geliefert werden. Diese logistische Meisterleistung vollzieht sich meist unbemerkt. Doch ein Blick in die Lager von Kehr offenbart die beeindruckende Dimension dieser Aufgabe: „Wir führen ein großes Sortiment von mehr als 100 000 Artikeln und beliefern damit 1200 Apotheken“, erklärt Hanns-Heinrich Kehr, der die Geschäfte von Kehr zusammen mit Stefan Holdermann und Thomas Linsenmaier leitet.

Effizienzsteigerung durch hohen Automatisierungsgrad

Mit einem Team von 400 Mitarbeitenden und einem Jahresumsatz von etwa 800 Millionen Euro zählt die Unternehmensgruppe zu den führenden mittelständischen Pharmagroßhändlern in Deutschland. Ihre logistische Effizienz ermöglicht es, Medikamente innerhalb von nur drei Stunden an jede Apotheke im Absatzgebiet zu liefern, selbst in entlegene Gegenden und über Nacht. Ein Schlüsselfaktor hierfür ist der hohe Automatisierungsgrad in den Kommissionier- und Hochregallagern. „Vom Eingang des Auftrags in der Apotheke bis zur fertig kommissionierten, verschnürten und adressierten Lieferbox im Lieferfahrzeug benötigen wir lediglich 15 bis 20 Minuten. Diese Schnelligkeit ist entscheidend, um Apotheken bedarfsgerecht zu beliefern“, betont Hanns-Heinrich Kehr.
Mit unserem Digitalangebot positionieren wir Apotheken an der Spitze der Digitalisierung.

Stefan Holdermann

Als eine tragende Säule des Gesundheitswesens muss Kehr strengen gesetzlichen und regulatorischen Anforderungen gerecht werden, die jeden Aspekt des Logistikprozesses beeinflussen. Vorschriften zur Lagerung, Handhabung und zum Transport der Produkte sind entscheidend, um Qualität und Wirksamkeit der ­Medikamente kontinuierlich zu garantieren. Dies führt zu einem erheblichen bürokratischen Aufwand. „Wir unterliegen der Aufsicht von 17 Behörden, die uns gemäß verschiedener Auflagen und Gesetze überprüfen“, erläutert Stefan Holdermann die Herausforderungen, die mit der Pharmadistribution verbunden sind.
Das Liefergebiet von Kehr erstreckt sich weit über die Grenzen Niedersachsens hinaus und umfasst Regionen von Berlin und Brandenburg über Sachsen und Sachsen-Anhalt bis nach Hessen, Nordrhein-Westfalen und Bremen. Diese beeindruckende Reichweite wird durch drei strategisch platzierte Standorte in Braunschweig, Dessau und Berlin/Ludwigsfelde ermöglicht.
Trotz dieser umfangreichen Präsenz stehen Kehr und die belieferten Apotheken im Wettbewerb mit Versandapotheken, deren Geschäftsmodelle nicht denselben logistischen Anforderungen unterliegen, wie etwa die Einhaltung spezifischer Temperaturbereiche bei Lieferungen. Versandapotheken, oft im Ausland ansässig, können ihre Medikamente mit weniger logistischem Aufwand und daher zu geringeren Kosten versenden. Geschäftsführer Hanns-Heinrich Kehr sieht darin einen „Wettbewerb mit ungleich langen Spießen“.
Erfolg in diesem hart umkämpften Markt erfordert Zusammenarbeit. 1984 gründete Kehr mit Gleichgesinnten die Pharma Privat GmbH, ein Zusammenschluss der führenden privat geführten Pharmagroßhändler in Deutschland. Gemeinsam nutzen sie die Vorteile der regionalen Nähe, bündeln Einkaufsmengen und entwickeln gemeinsame Absatzkonzepte. „Unsere Liefergebiete überschneiden sich fast nicht; wir sind alle eigentümergeführte Gesellschaften mit einem regionalen Versorgungsgebiet, die strategisch denselben Kurs verfolgen“, sagt der 68-Jährige, der bis dieses Jahr auch Geschäftsführer von Pharma Privat war.

Digitalangebot bindet Kundschaft

Die Digitalisierung spielt eine entscheidende Rolle in der Strategie von Kehr und wurde bereits früh erkannt, als der Betrieb schon vor mehr als 20 Jahren seinen eigenen E-Shop für seine Kundschaft einführte. Heute sieht der Pharmadistributor in der Digitalisierung einen Schlüssel zur Modernisierung und Personalisierung der Kundeninteraktion in Apotheken, was im Wettbewerb mit Versandapotheken besonders wichtig ist. Kehr versteht sich nicht nur als Lieferant, sondern auch als Dienstleister, der Vor-Ort-Apotheken mit Vertriebskonzepten und digitalen Werkzeugen unterstützt, um eine umfassende und wohnortnahe Gesundheitsversorgung zu ermöglichen. „Mit unserem Digitalangebot positionieren wir Apotheken an der Spitze der Digitalisierung“, erklärt Stefan Holdermann, der die Digitalstrategie vorantreibt.
Kehr bietet über Pharma Privat eine Vielzahl digitaler Tools an, darunter eine Apotheken-App, die Apotheken hilft, eine starke Markenidentität aufzubauen und die Kundenbindung zu den Patienten zu erhöhen. Die App macht es für jeden möglich, E-Rezepte direkt zu übermitteln und über eine integrierte Chat-Funktion einfach mit der Apotheke zu kommunizieren; die Apotheken wiederum können ihre Kundinnen und Kunden auf Angebote und Dienstleistungen aufmerksam machen. Kurzum: Die App ist ein leistungsfähiges Werkzeug, um im digitalen Zeitalter wettbewerbsfähig zu bleiben. Hanns-Heinrich Kehr betont: „Wer heute als Apotheke die App nicht für sich nutzt, verschläft das Morgen.“

Umwelt- und Klimaschutz auch im Pharmagroßhandel unabdingbar

Obwohl es gute Gründe gibt, jährlich mehr als zehn Millionen Kilometer zu fahren – genau genommen mehr als 150 000 Gründe, entsprechend der Anzahl der täglich ausgelieferten Arzneimittelpackungen – resultieren daraus monatlich CO₂-Emissionen von 180 Tonnen. Um diesen ökologischen Fußabdruck zu reduzieren, hat Kehr 2019 in Kooperation mit den Niedersächsischen Landesforsten den Apothekenwald ins Leben gerufen. Das Unternehmen engagiert sich nicht nur durch das Pflanzen von Bäumen, sondern unterstützt das Projekt auch durch Aufsteller, Flyer und Spendenboxen in den Apotheken. Dadurch können deren Kundinnen und Kunden direkt an der Wiederaufforstung der von Sturm, Dürre und Borkenkäfer betroffenen Harzwälder mitwirken. Die Resonanz ist beeindruckend: „Ursprünglich wollten wir 10 000 Bäume pflanzen, doch inzwischen sind es bereits fast 60 000 Setzlinge“, berichtet Hanns-Heinrich Kehr.
Mit unserem Digitalangebot positionieren wir Apotheken an der Spitze der Digitalisierung.

Stefan Holdermann

Die kürzlich installierte Photovoltaik-Anlage auf dem Dach des Unternehmensstandorts in der Sudetenstraße sowie der Ausbau der E-Mobilität sind weitere zentrale Maßnahmen für den Klimaschutz. Die Anlage deckt nicht nur 30 Prozent des Strombedarfs am Standort Braunschweig, sondern speist auch vier Schnellladestationen in der Versandhalle, wo die Fahrzeuge während des Beladens mit Medikamenten geladen werden können. Bereits fünf speziell für die Pharmalogistik umgerüstete Elektrotransporter sind im Einsatz – ein wichtiger Schritt zur Reduzierung des CO₂-Ausstoßes. „Wir haben ein starkes Konzept entwickelt, sehen das aber erst als den Anfang“, erklärt Hanns-Heinrich Kehr.

100 Jahre Wachstum und Expansion

Die mutigen Initiativen von Kehr sind tief in einer Tradition verwurzelt, die bis ins Jahr 1924 zurückreicht. Damals erkannte Richard Kehr, der Großvater von Hanns-Heinrich Kehr, das Potenzial von Fertigarzneimitteln in einer Zeit, in der Apotheken üblicherweise ihre eigenen Medikamente herstellten. Mit der Gründung seines Unternehmens in Halberstadt legte er den Grundstein für ein zukunftsorientiertes Geschäft, das stets den Blick nach vorn richtete.
Die Geschichte von Kehr ist nicht nur ein Zeugnis echten Unternehmergeistes, sondern auch eng mit den Wendepunkten der deutschen Geschichte verwoben, was sie besonders faszinierend macht. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als eine Enteignung in der sowjetischen Besatzungszone drohte, ergriff Richard Kehr eine kühne Maßnahme. Er schickte einen seiner Mitarbeiter, in dessen Mantel heimlich viel Geld eingenäht war, über die Grenze nach Braunschweig. Dort errichtete dieser im Bunker Melverode ein Auslieferungslager für Arzneimittel, das die britische Besatzungszone versorgte und von dem aus Medikamente über die innerdeutsche Grenze geschmuggelt wurden.
Unter der Leitung seines Sohnes Friedrich Kehr wurde Braunschweig zum Hauptsitz des Pharmagroßhandels. In den Jahren des Wirtschaftswunders expandierte der Betrieb erheblich. Nach dem Umzug in ein eigenes Gebäude in der Blumenstraße belieferte es Apotheken in ganz Niedersachsen. Bis 1970 wuchs die Belegschaft auf über 260 Mitarbeitende, und der Umsatz erreichte mehr als 36 Millionen D-Mark. Eine interessante Randnotiz: Auch Klaus Gerwien und Erich Maas, beide Flügelstürmer der Meistermannschaft von Eintracht Braunschweig, waren zeitweise dort beschäftigt.
Wir haben eine durchgehende, fehlerfreie Logistikkette etabliert.

Hanns-Heinrich Kehr

Nach dem Tod ihres Vaters traten Apotheker Ulrich Kehr und Diplom-Kaufmann Hanns-Heinrich Kehr die Nachfolge in der Geschäftsführung an, mit tatkräftiger Unterstützung ihrer Mutter Lottelore. Ihr kluges und einfühlsames Wirken war ein entscheidender Faktor für den Generationenübergang und Erfolg. Um den Neubau am heutigen Standort mit moderner Logistik zu finanzieren, bürgten die Brüder mit persönlichen Bürgschaften für eine Landesbürgschaft in Millionenhöhe. Über 38 Jahre lang leiteten sie das Unternehmen gemeinsam in enger Zusammenarbeit – „ein Geschenk für uns“, betont Hanns-Heinrich Kehr. Seit vier Jahren führt er es nun ohne seinen Bruder, zusammen mit ­Stefan Holdermann, der bereits seit zwei Jahrzehnten dabei ist, und Thomas Linsenmeier, der seit fünf Jahren zum Führungsteam gehört.
Der Umzug in das neue und große Gebäude erwies sich als besonders vorteilhaft nach dem Fall der innerdeutschen Grenze, da dies die Wiederaufnahme der Belieferung von Kundinnen und Kunden im ehemaligen Stammgebiet ermöglichte. Ein Apotheker, der die langjährige Beziehung zur Familie Kehr schätzte, drückte, so erzählt es Hanns-Heinrich Kehr, seine Loyalität aus: „Ich habe schon bei Ihrem Großvater gekauft und möchte so schnell wie möglich auch wieder bei Ihnen kaufen.“ Heute befindet sich etwa die Hälfte der 1200 von Kehr belieferten Apotheken in den neuen Bundesländern.

Neue Impulse und ein Generationswechsel

Während der Coronapandemie demonstrierte Kehr seine logistische Kompetenz durch eine entscheidende Rolle bei der Verteilung der Impfstoffe. Von den Herstellenden bei minus 80 Grad geliefert, mussten sie für den Transport zu Apotheken und impfenden Ärztinnen und Ärzten in einem überwachten Prozess auf zwei bis acht Grad aufgetaut und in erschütterungsfreien Verpackungen ausgeliefert werden. „Wir haben eine durchgehende, fehlerfreie Logistikkette etabliert“, erklärt Hanns-Heinrich Kehr. Die Herausforderung war immens, insbesondere da der Gesundheitsminister Jens Spahn den Vertriebs- und Logistikweg erst wenige Tage vor dem Start festgelegt hatte. „Und doch hat alles perfekt funktioniert.“
Die erfolgreiche Bewältigung dieser großen Aufgabe verdeutlicht die Bedeutung weitsichtiger Führung bei Kehr. In dieser Tradition steht nun Felix Kehr bereit, in die Fußstapfen seines Urgroßvaters zu treten und die Verantwortung für das Unternehmen zu übernehmen. Nach seinem Studium des Wirtschaftsingenieurwesens in Braunschweig und Betriebswirtschaft in Madrid, Paris und Berlin sowie Erfahrungen im Volkswagen-Werk in Puebla und in der Unternehmensberatung plant er, ab nächstem Jahr schrittweise in seine neue Rolle hineinzuwachsen. Dabei wird Felix Kehr zunächst gemeinsam mit seinem Vater arbeiten. „Neue Generationen haben ihre eigenen Ideen, und irgendwann wollen sie auch allein machen dürfen“, unterstützt Hanns-Heinrich Kehr den Übergang.
Mit Felix Kehr führt die vierte Generation das Vermächtnis des Familienunternehmens fort, das seit 100 Jahren besteht und die Gesundheitsversorgung in Deutschland tiefgreifend geprägt hat. Sich dem Wohl der Gemeinschaft zu widmen, bleibt eine anspruchsvolle, aber lohnende unternehmerische Aufgabe. „Unser Antrieb ist es, Gesundheit zu den Apotheken und zu den Menschen zu bringen“, meint Hanns-Heinrich Kehr abschließend. „Auch wenn wir ‚nur‘ versiegelte Packungen liefern, tun wir dies gewissenhaft und schnell – genau so, wie es sein sollte.“
Stefan Boysen
6/2024