Digitale Unsterblichkeit

Wie ein Braunschweiger Start-up dem Fachkräftemangel begegnet
Künstliche Intelligenz ist einer der bedeutendsten Trends unserer Zeit und doch ist ihr Ursprung mindestens 100 Jahre alt. Denn die Idee dahinter basiert auf dem industriellen Begriff des „Machine Learning“, der bereits in Fritz Langs wegweisendem Stummfilm „Metropolis“ aus dem Jahr 1927 Beachtung fand. Was damals noch Fiktion war, ist heute in einigen Bereichen der industriellen Produktion Realität. Doch insbesondere die Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine ist in die digitale Transformation noch immer zu wenig eingebunden. Das Start-up LenQTec aus Braunschweig hat mit k.MATCH ein Softwaresystem entwickelt, das das ändern will und den Mitarbeitenden ins Zentrum der Transformation stellt. k.MATCH vereinfacht Prozesse, reduziert Fehler, erhöht die Produktivität und steigert die Wertschöpfung. Um das zu erreichen, transferiert k.MATCH auch das Know-how der Mitarbeitenden in digitale Informationen.
Entwickler Detlev Kutscher, seines Zeichens Maschinenbauer und Technikwissenschaftler, sei ein Mann der Praxis, wie er eingangs verrät. Als Inhaber der Agentur kutscherkonzept weist er jahrelange Erfahrung in der Kommunikation technischer Prozesse auf, was auch zu der Idee für k.MATCH geführt hat: 2015 bat ihn ein Schweizer Unternehmen, das Schleifmaschinen herstellt, wiederkehrende Gewährleistungsansprüche eines amerikanischen Kunden zu analysieren. Kutscher, der den Ausfall der Maschine als Bedienfehler identifizierte, war schnell klar, dass die Mensch-­Maschine-Schnittstelle nicht funktioniert hatte. Eine pragmatische und niedrigschwellige Lösung musste her, um weiteren Ausfällen vorzubeugen. So sah er die Behebung des Problems darin, die gesamte Betriebs­anleitung der Maschine als Video zu produzieren. Betriebsanleitungen von Werkezug­­maschinen seien in der Regel 600 Seiten dick und er habe das gesamte darin beschriebene Handling zwischen Mensch und Maschine nachgestellt und aufgezeichnet. Das Video wurde in thematische Sequenzen unterteilt und die Mitarbeitenden konnten so – immer, wenn sie eine bestimmte Bedieneinheit nicht beherrschten – die Videos von ihren Tablets abrufen. „Das ist letztendlich YouTube für Profis“, beschreibt der Entwickler den Grundgedanken von k.MATCH.
Wir sind die Typen mit den schwarzen Fingernägeln. Wir wissen, wie es im Betrieb läuft und was dort wirklich gebraucht wird.

Detlev Kutscher

Kutscher habe das Engineering übernommen und für die dahinterliegende Software den Informatiker und ehemaligen Mitarbeiter Felix Funke als Partner gewonnen. Die Software konnte schließlich Kutschers technische Visionen umsetzen und wurde um weitere Hardware ergänzt. So zum Beispiel um eine industrietaugliche Datenbrille. Jene verbindet sich mit einem sicheren Datenserver, von dem die Mitarbeitenden an den Maschinen Handlungsanleitungen abrufen und ohne Verzögerungen umsetzen können. Zum besseren Verständnis visualisiert der Technik­wissenschaftler die Mensch-­Maschine-Schnittstelle, die den ­Fokus von k.MATCH ausmacht, gekonnt an einem Beispiel aus dem Alltag: „Ihr Auto geht plötzlich kaputt, Sie haben eine Panne. k.MATCH ermöglicht es nicht nur, Betriebsanleitungen per Video einzusehen, sondern auch Experten live zu kontaktieren. Zum Beispiel per Videoanruf, in dem auch Motorengeräusche und Kamerabilder direkt verarbeitet und von einem Experten ausgewertet werden können, sodass dieser Sie durch die Reparatur führen kann.“ Der Experte am Help Desk sehe immer das, was der Nutzer per App in Echtzeit tue und könne in das laufende Livebild auch Hilfestellungen einzeichnen, die den Prozess verdeutlichen.

Rezept gegen Fachkräftemangel

Seit 2024 übernimmt das Start-up LenQTec als Spin-off von kutscherkonzept, Weiterentwicklung und Vermarktung von k.MATCH. LenQTec, das sind vor allem Kutschers Sohn Lennart Neermann für Marketing und Vertrieb sowie Dr. Christoph Knieke für das Software Development und Gerald Klemm für den Bereich „Shopfloor Application“. Kutscher selbst steht dem Start-up beratend zur Seite. Zu der Entscheidung der Nachfolge hat vor allem das positive Feedback auf der diesjährigen Hannover-Messe beigetragen, wo LenQTec auf dem Niedersächsischen Gemeinschaftsstand „Digitalisierung“ ausstellte. Interessenten seien vor allem auf den Claim „Digitale Unsterblichkeit“ aufmerksam geworden. „Wir mussten natürlich filtern, was wir auf der Messe erläutern, da k.MATCH sehr umfangreich und vielseitig einsetzbar ist. Ein guter Einstieg war die Digitalisierung von Wissen, da dies ein aktuelles Problem darstellt“, so Neermann, der damit vor allem auf den Fachkräftemangel hinweist.
Die Gründer sind überzeugt, dass sie mit k.MATCH das beste Rezept dagegen entwickelt haben, denn LenQTec unterstütze Unternehmen auf ihrem Weg der Transformation von technischem Know-how in digitale Informationen. So bleibe das durch k.MATCH digitalisierte Wissen im Unternehmen und gehe nicht mit ausscheidenden Mitarbeitenden verloren. Es sei damit reproduzierbar, jederzeit abrufbar, sowie skalierbar und generiere eigene Trainingsdaten für die dahinterstehende KI – eindeutig ein Allein­stellungsmerkmal von LenQTec. „Alles, was wir machen, dient dazu, dass Mensch, Prozess und Maschine besser zusammenkommen. Es geht dabei letztendlich immer um die Inhalte, die wir mit k.MATCH in ,Immortal Content‘ transformieren“, erklärt Dr. Knieke und meint damit die drei Säulen betrieblichen Know-hows: Informationen, Produktions­daten und das Wissen von Mitarbeitenden.

Modulares System

Die erste Säule des modularen Systems k.MATCH besteht aus Kutschers Ursprungsidee: der Transfer historischer Betriebs­daten wie Betriebsanleitungen oder Handbücher in digitale Informationen.
Die zweite Säule überprüft digitalisierte Maschinenzustände – Condition Monitoring Data. Sensoren, die über die unterschiedlichen Zustände wie Temperatur, Feuchtigkeit oder Vibration in den Maschinen informieren, senden ihre Daten an einen Industriecomputer, zumeist ein Raspberry Pi, und von dort über eine Schnittstelle zu k.MATCH. Sollte dieser einen Fehler anzeigen, wertet das System die Meldung aus und stellt die passende Handlungsanleitung bereit.
Die dritte Säule des Content Management Systems heißt schlicht „Manfred“ und beschreibt das System der Wissensübertragung von erfahrenen Mitarbeitenden in digitale Daten. „Dass Fachkräfte fehlen, in Rente gehen und damit Wissenslücken entstehen, ist ein Thema, das schon seit 15 Jahren in der Industrie bekannt ist“, beschreibt Neermann den Grundgedanken von Manfred. Zudem sei die Handhabung der Mensch-­Maschine-Schnittstelle mit Zunahme der Digitalisierung immer komplexer geworden. Den Prozess an der Maschine durchzuführen, erfordere mehr denn je Expertenwissen, das schlichtweg fehle. LenQTec schafft Abhilfe, indem sie das Fachwissen ausscheidender Mitarbeitenden in ­Videos festhalten. „Nachfolgende sind so in der Lage, nach bestimmten Operationen, zum Beispiel ‚Werkzeugwechsel‘, zu suchen und unsere Software liefert dann den passenden Beitrag eines ehemaligen Mitarbeitenden“, so Dr. ­Christoph ­Knieke. Mitgründer Lennart Neermann weist außerdem auf die einfache Handhabung der Software hin. Sind die Kunden erst einmal mit besagter Datenbrille, einem Stativ sowie einem Mobiltelefon ausgestattet, „erklären wir die entsprechende Technik dahinter, damit die Betriebe selbst in der Lage sind, die ­Videos aufzunehmen und Manfred zu realisieren.“ Praktisch, dass mit k.MATCH die entsprechend notwendige und sehr einfach zu bedienende Schnittsoftware Bestandteil des Systems ist.

Die Typen mit den schwarzen Fingernägeln

Im Vorfeld beraten die Gründer ihre Kunden vor Ort und machen eine Bestandsaufnahme von den Maschinen und Prozessen. Gerald Klemm analysiert die Maschinen, Dr. Christoph Knieke die Prozesse. Gemeinsam mit dem Kunden erarbeiten sie dann ein Konzept mit entsprechenden Lösungsoptionen. „Wir sind die Typen mit den schwarzen Fingernägeln. Wir wissen, wie es im Betrieb läuft und was dort wirklich gebraucht wird“, bekräftigt Kutscher seinen Enthusiasmus für diese Vorgehensweise. Daher wissen die Gründer, dass neben der Prozessoptimierung auch das Thema Datenschutz auf unterschiedlichen Ebenen eine große Rolle für Kunden spielt, denn „insgesamt steckt in den Videos natürlich nicht nur das Know-how des Mitarbeitenden, sondern auch das produktionstechnische Know-how des Betriebes“, erklärt Dr. Knieke.
Um die sensiblen Produktionsprozesse der Kunden ideal zu schützen, funktioniert k.MATCH auf mehreren Sicherheitsebenen und unterscheidet sich vor allem in der Videokommunikation radikal von den Systemen anderer Anbieter. Denn ­LenQTec nutzt keine browserbasierte Software, sondern selbst geschriebene Programme. Die Videostreams zwischen Mobile Device und Helpdesk laufen über einen von den Entwicklern programmierten Videoserver, der in einer gesicherten Umgebung bei einem Provider liegt. Jeder Kommunikationsweg zwischen Mobile Device und Videoserver ist verschlüsselt. Die geschlossene Videokommunikation und der verschlüsselte Zugriff auf die Informationen in der Datenbank machen einen Hackerangriff extrem aufwendig und daher sehr unwahrscheinlich.

Ein System, Millionen Unternehmen

Ein weiteres Ass haben die Gründer von LenQTec natürlich noch im Ärmel, denn die Softwarearchitektur von k.MATCH ist überaus vielseitig: Auf der EMO 2023 hat das Team die in Kooperation mit der Technischen Universität Clausthal entwickelte Produktionsplattform k.WORLD vorgestellt. Aktuell folgt k.MATCH dem Prinzip „Ein System – ein Unternehmen“. Laut den Gründern stammt die Idee zu k.WORLD aus der „Abteilung Größenwahn“, ist vergleichbar mit Amazon Web Services und basiert auf dem Grundsatz „Ein System – Millionen Unternehmen“. k.WORLD könne nur auf einer großen Plattform realisiert werden, um möglichst vielen Nutzerinnen und Nutzern die Vorteile von k.MATCH zu erschließen.
Federführend betreut Dr. Knieke, der an der Technischen Universität Clausthal als Dozent am Institut für Software and Systems Engineering tätig ist, das Projekt. „Ich sehe meine Rolle vor allem darin, eine entsprechende Architektur für k.WORLD zu entwickeln, das System weiter auszubauen und sobald wir Investoren gefunden haben, ein Entwickler-Team zusammenzustellen“, kommentiert der leitende Software-­Ingenieur. Die Plattform sei natürlich noch nicht vollständig ausgereift, ergänzt Neermann, soll Investoren aber aufzeigen, „wo die Reise einmal hingehen könnte“. Gespräche mit internationalen Investoren finden bereits statt.
ar
5/2024