Der Wasserstoff und seine Rolle im Energiemix der Zukunft
„Der Wasserstoff ist die Nummer eins des periodischen Elementevereins“ sang der Künstler Andreas Dorau schon 2014. Das war, bevor alle Welt über dessen Vor- und Nachteile respektive Chancen und Risiken philosophierte. In unserer Region beschäftigt das häufigste chemische Element im Universum Wirtschaft und Wissenschaft gleichermaßen. Was aber ist der Energieträger Wasserstoff – als Element zwischen Hype und großen Hoffnungen – wirklich zu leisten im Stande? Welche Anwendungsfelder tragen absehbar zu den Zielen der Treibhausgasneutralität bei? Und wo liegen die Chancen der Wasserstoffwirtschaft? Eine Bestandsaufnahme.
Häufig wird die Wasserstofftechnologie aktuell als Allheilmittel ins Feld geführt, wenn es in Diskussionen um nachhaltige Energieproduktion und das Erreichen von Klimazielen geht. Dass der redaktionsfreudige Wasserstoff in der Natur ausschließlich in gebundener Form wie Wasser, Säuren oder Kohlenwasserstoffen vorkommt, wird bisweilen außer Acht gelassen. Seine Nutzung als CO2-freundlicher Energieträger bringt in der Realität nicht zuletzt deshalb zahlreiche Herausforderungen mit sich.
Wasserstoff, der zur Klasse der Sekundärenergien gehört, muss grundsätzlich erst einmal durch den Einsatz von Primärenergie gewonnen werden, bevor er als Energieträger zur Verfügung steht – und, direkt oder indirekt genutzt, zu einem der zentralen Bausteine der Energiewende werden und maßgeblich zur Dekarbonisierung beitragen kann. Aktuelle Forschungen bewegen sich überwiegend in den Bereichen der Erzeugung, Wirkungsgradverlusten in Umwandlungsprozessen, Transport, Speicherung und notwendiger Infrastruktur. Nichtsdestotrotz hat sich die nationale Wasserstoffstrategie die globale Technologieführerschaft Deutschlands in diesem Bereich zum Ziel gesetzt.
Wasserstoff-Campus bündelt die Kompetenzen
In der Region bündeln die Partner im Wasserstoff-Campus Salzgitter ihre Kompetenzen, um die industrielle Wasserstoffnutzung zu demonstrieren und marktfähige Lösungen für eine Dekarbonisierung zu entwickeln. Vor rund anderthalb Jahren reifte die Idee zur Zusammenarbeit und im September vergangenen Jahres schließlich unterzeichneten die Stadt Salzgitter, das Fraunhofer-Institut für Schicht- und Oberflächentechnik, das Projektbüro Südostniedersachsen (in dem das Amt für regionale Landesentwicklung und die Allianz für die Region GmbH gemeinsam agieren) sowie die Unternehmen Salzgitter AG, MAN Energy Solutions, Bosch, Alstom und WEVG eine diesbezügliche Kooperationsvereinbarung. Ermöglicht wurde der Wasserstoff-Campus durch eine 7 Millionen-Euro-Strukturhilfe aus der dritten Säule (Wirtschaftlicher Strukturwandel) des Strukturhilfeprogramms, dass das Land Niedersachsen der Stadt Salzgitter zur Verfügung stellt.
Die Partner des Projekts „Windwasserstoff Salzgitter“: Professor Dr. Heinz Jörg Fuhrmann, Vorstand der Salzgitter AG, Dr. Johannes Teyssen, Vorstandsvorsitzender E.ON SE, sowie Marten Bunnemann, Vorstandsvorsitzender der Helmstedter Avacon AG (v. r.), nahmen die Sektorenkopplung in Betrieb. Dabei wird elektrische Energie zur Stahlherstellung aus sieben Groß-Windrädern, die die regionale E.ON-Gesellschaft auf dem Gelände von Salzgitter betreibt, in zwei Elektrolyse-Einheiten eingespeist.
© André Pause
Die ersten drei Projekte sind im Februar gestartet. Im „Innovationsverbund Wasserstoffcampus Salzgitter“ geht es um die Ausgestaltung, kontinuierliche Entwicklung und Professionalisierung des Verbundes, inklusive seiner Infrastruktur und seiner Angebote. Dies beinhaltet auch die formelle Gründung des Wasserstoffcampus als rechtliche Einheit, die neben einer engen Vernetzung aller Akteure und Aktivitäten des Wasserstoffcampus, insbesondere den Wissens- und Technologietransfer von Erkenntnissen in die Industrie, Wissenschaft, Politik und Gesellschaft gewährleisten soll. In zwei Teilprojekten wird sich ab sofort der „Oberflächenbehandlung zur Reduzierung der Wasserstoffdiffusion in Stahltanks“ sowie der „Fabriktransformation zur Dekarbonisierung der Wertschöpfung mit H2“ gewidmet.
Identifizierung von Anwendungsfeldern
Aktuell lassen sich vor dem Hintergrund der zu erreichenden CO2-Ziele absehbar die Anwendungsfelder Industrie, Mobilität und Wärme für Wasserstoff identifizieren. Eine Studie des Fraunhofer-Instituts aus Mai 2020 priorisiert diese Wasserstoffanwendungsfelder aus Energiesystemsicht in Hinblick auf die Effizienz.
Das größte Potenzial zur CO2-Einsparung und die aktuell höchste Effizienz erkennen die Forschenden in der industriellen Direktnutzung von Wasserstoff. Dabei stellen sie den Ersatz heutiger Erdgasreformer durch die Verwendung von grünem Wasserstoff aus der Elektrolyse für die Ammoniak- und Methanolproduktion als auch die Petrochemie in den Vordergrund. Ergänzend werden die Direktnutzung insbesondere bei der Stahlherstellung sowie in Kraftwerken als sehr effiziente Anwendungsfelder aufgeführt. Im Rahmen der Stahlherstellung zum Beispiel ergeben sich große Potenziale vor allem durch die Substitution der Eisenerzreduktion unter dem Einsatz von Kohlenstoff durch eine Direktreduktion unter dem Einsatz von grünem Wasserstoff. In Kraftwerken könne anstelle von Erdgas Wasserstoff für die Stromerzeugung und idealerweise eine gekoppelte Wärmegewinnung als Industrieprozesswärme oder Fernwärme genutzt werden.
Die H2-Farbenlehre: grün, grau und türkis
Die Salzgitter AG, die mit SALCOS (Salzgitter Low CO2 Steelmaking) im ersten Schritt eine erste signifikante Reduzierung von CO2-Emissionen und bis zur Mitte des Jahrhunderts eine beinahe CO2-freie Stahlherstellung anstrebt, hat mit der Inbetriebnahme des vom Bundeswirtschaftsministerium mit 1,1 Millionen Euro geförderten Sektorkopplungsprojekts „Windwasserstoff Salzgitter – WindH2“ im März den langen Weg in die Dekarbonisierung der Stahlindustrie angetreten.
Insgesamt wird bei der Herstellung von Wasserstoff zwischen drei Verfahren unterschieden: der Elektrolyse, der Dampfreformierung und der Methanpyrolyse. In diesen Verfahren unterscheiden sich, neben den Entwicklungsstadien, die eingesetzten Ressourcen als auch die entstehenden Produkte. Als einzig nachhaltiger Wasserstoff wird in der aktuellen Diskussion der grüne – somit aus der Elektrolyse unter dem Einsatz von Erneuerbaren Energien erzeugte – Wasserstoff angesehen.
Die Herstellungsverfahren und Farbenlehre der Wasserstoffindustrie im Überblick
Herstellungsarten
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Elektrolyse
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Dampf-reformierung
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Methanpyrolyse
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Entwicklungsstadium
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Marktfähig (Alkali, PEM),
Pilotvorhaben (SOEC, AEM) |
Marktfähig
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Pilotvorhaben
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Verwendete Ressource
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Wasser + Strom
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Erdgas + Kohle
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Erdgas
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Entstehende Produkte
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Wasserstoff, Sauerstoff
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Wasserstoff, Kohlenstoffdioxid
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Wasserstoff, Kohlenstoff (fest)
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Kosten
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mittel – hoch
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niedrig
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mittel
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Farbe/Bezeichnung
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Grüner Wasserstoff, sofern Strom
aus erneuerbaren Energien stammt. |
Grauer Wasserstoff / Blauer
Wasserstoff, sofern CO2 wiederverwendet (CCU) oder gespeichert (CCS) wird. |
Türkiser Wasserstoff
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„Wir sind fest entschlossen, unsere Stahlproduktion bis 2050 zu 100 Prozent mit grünem Wasserstoff zu betreiben und bis 2030 übergangsweise mit Erdgas eine Reduzierung unserer CO2-Emissionen um 30 Prozent zu erreichen“, skizziert Professor Dr. Heinz Jörg Fuhrmann, Vorstandsvorsitzender der Salzgitter AG. „Im Zuge der Ehrlichmachung sage ich: Der Wasserstoff wird zunächst Mal zum ganz großen Teil aus Erdgas kommen, und zwar mit dem Wert als Direkteinsatz. Und dann werden wir peu à peu mit der Verfügbarkeit von noch mehr regenerativer Energie mit den Installationen von Elektrolyseanlagen den Wasserstoff zusteuern.“
Wasserstoff in der Mobilität
Das Anwendungsfeld der Mobilität findet sich hinsichtlich seiner Effizienz in Bezug auf die CO2-Einsparung eher im hinteren Teil des Rankings des Fraunhofer-Instituts wieder. Laut der Studie erstreckt sich zum heutigen Stand die effiziente Nutzung von Wasserstoff insbesondere auf die Bereiche des internationalen Flug- und Seeverkehrs über Power-to-Liquid-Ansätze. Im Pkw- als auch Lkw-Verkehr ist es noch offen, welche Rolle Wasserstoff zukünftig einnehmen kann. Die fehlende Tankinfrastruktur für Wasserstoff, als auch die Kosten- und Effizienzunterschiede gegenüber der Elektromobilität spielen hier entscheidende Rollen und werden maßgeblich von politischen Entscheidungen mitbeeinflusst. Die Nutzung von Brennstoffzellen sehen die Forschenden insbesondere als Chance für Nischenanwendungen wie Schiffe und Lokomotiven, die nicht elektrifiziert werden können.
Genau deshalb arbeitet die Bahnindustrie selbst aktiv daran, alternative Antriebe in den schienengebundenen Nah- und Fernverkehr zu bringen. „Wir haben schon vor Jahren angefangen, diese Antriebe in unsere Fahrzeuge hineinzuprojizieren. Das mündete darin, dass wir nach umfassendem Testbetrieb jetzt in den Regelbetrieb übergehen“, sagt Müslüm Yakisan, Alstom-Chef der DACH-Region, bei der Übergabe des ersten Wasserstoffzuges am Standort des Konzerns in Salzgitter. Ab 2022 werden zunächst 14 „Coradia iLint“-Serienzüge die bisher im Weser-Elbe-Netz verwendeten Dieseltriebzüge ersetzen. Die Landesnahverkehrsgesellschaft Niedersachsen LNVG investiert dafür insgesamt rund 81 Millionen Euro. Aus dem Cluster Alstom-Salzgitter heraus, wolle man Brennstoffzellentechnik in Europa populär machen. Daher freue man sich, dass nun auch intensiv an der Infrastruktur gearbeitet wird: an Tankstellen, Werkstätten sowie an der Wandlung von Windenergie durch Elektrolyse. „Was für uns wichtig ist, dass der Wasserstoff in einer bestimmten Qualität in einer normdefinierten Reinheit zur Verfügung steht, damit das Fahrzeug die Performance bringt“, so Yakisan, der betont, dass man sich im regionalen Cluster gegenseitig befeuere und auf die Innovationen des jeweils anderen blicke. Es gebe viele Betriebe, die in einem ähnlichen Kontext arbeiten. Gerade vor diesem Hintergrund sei es wichtig, technologieoffen zu bleiben. Und sollte irgendwann ein besser geeigneter Energiespeicher als Wasserstoff identifiziert sein, werde es möglich sein, das Modul austauschen.
Ab 2022 werden 14 „Coradia iLint“-Wasserstoff-Serienzüge von Alstom im Weser-Elbe-Netz eingesetzt.
© André Pause
Erhebliche technologische Anforderungen
Apropos Energiespeicher: Die Nutzung von Wasserstoff als Zwischenenergiespeicher für die Stromversorgung wird insbesondere aufgrund der Wirkungsgradverluste in den Umwandlungsprozessen zukünftig nicht zur Grundenergieversorgung beitragen. Er wird im Rahmen der Erhöhung der Anteile Erneuerbarer Energien in der Stromversorgung vielmehr eine erhebliche Rolle zum Ausgleich von Stromerzeugungsüberschüssen (Umwandlung in Wasserstoff zur Speicherung) und Stromerzeugungsdefiziten (Nutzung des gespeicherten Wasserstoffs) spielen.
Bei einem mittlerweile laut Bundesministerium für Wirtschaft und Energie auf 46 Prozent gestiegenen Anteil von Erneuerbaren Energien am Energiemix in 2020 ist für die Speichertechnologie von Wasserstoff eine steigende Nachfrage zu erwarten. Die besonderen Eigenschaften des Elements und der steigende Bedarf an grünem Wasserstoff stellen dabei erhebliche Anforderungen an Technologien und Infrastruktur im Rahmen von Wasserstoffspeicherung als auch Wasserstofftransporten.
Viele Probleme der Wasserstoffspeicherung sind mittlerweile gelöst. Die Explosionsgefahr zum Beispiel ist nicht größer als bei herkömmlichen Benzintanks. Für die industrielle Speicherung von Wasserstoff eigenen sich laut Studien des DLR neben Salzkavernen auch erschöpfte Öl- und Gasfelder. Zahlreiche Forschungsvorhaben zu großtechnischen Energiespeichern für Wasserstoff in Salzkavernen als auch die Erprobung von Gesamtsystemen (Strom-Wasserstoff-Speicherung-Nutzung) mit dem Ziel einer wirtschaftlichen Realisierung verdeutlichen die vorhandenen Potenziale.
Bei einem auf 46 Prozent gestiegenen Anteil von erneuerbaren Energien am Energiemix 2020 ist für die Speichertechnologie von Wasserstoff eine steigende Nachfrage zu erwarten.
Transport von Wasserstoff
Da die Herstellung von grünem Wasserstoff mittels Elektrolyseur an Ort und Stelle des Verbrauchs zwar großflächig theoretisch möglich ist, jedoch die Investitionskosten für Anlagen noch in keinem wirtschaftlichen Verhältnis stehen, werden wir im Rahmen der Energiewende nicht auf den Import und somit Transport von Wasserstoff verzichten können. Beim Transport kann zwischen globalen Transporten und lokalen Verteilungsnetzen unterschieden werden. Global wird der Transport von Wasserstoff in flüssigem Zustand derzeit als realistisch eingeschätzt. Auch hier unterscheiden sich die Technologien unter anderem durch die Reifegrade, eventuell notwendige Rückumwandlungen bei einem Einsatz von Trägerstoffen und die Anforderungen an die Transportinfrastruktur. Eine wesentliche Rolle spielt hierbei die Möglichkeit der Nutzung von bestehender Infrastruktur für die anschließenden lokalen Verteilungen des Wasserstoffes. Lokal kann Wasserstoff zum Beispiel in vorhandenen Erdgasleitungen mittransportiert werden. Spezielle Membranen könnten den Wasserstoff anschließend vom Gasgemisch trennen. Aber auch der Einsatz reiner Wasserstoffpipelines ist in Planung. Bis 2030 soll ein Wasserstoffnetz mit einer Länge von 1236 Kilometern aufgebaut werden.
Stand: April 2021
dw/pau