Wer suchet, der findet: Wo unentdecktes ­Fachkräftepotenzial ­schlummert

Der Fachkräftemangel beschäftigt und besorgt viele Unternehmen und und wirft die Frage auf: „Wo finde ich qualifizierte Mitarbeitende?“ Wir haben uns für Sie auf die Suche gemacht.
Von Anna Kalweit und Sven Frohwein
Der aktuelle Fachkräftereport der DIHK spricht eine deutliche Sprache: Jedes zweite befragte Unternehmen kann offene Stellen zumindest teilweise nicht ­besetzen, weil es keine Arbeitskräfte findet. Die Wirtschaft ist in der Breite von ­Arbeits- und Fachkräfteengpässen betroffen. Am stärksten gilt dies für die Industrie (54 Prozent), in der Bauwirtschaft sind es kaum weniger (53 Prozent). In den meisten Unternehmen fehlt es an Fachkräften mit einer fundierten dualen Berufsausbildung. Und: Mehr als 80 Prozent der Unternehmen erwarten negative Folgen eines Fachkräftemangels, z. B. die Einschränkung des eigenen Angebots oder den Verlust von Aufträgen.

Vor dem Hintergrund dieser teils dramatischen Entwicklung können sich immer mehr Unternehmen vorstellen, ihren Fachkräftebedarf im Ausland zu decken. ­Vielen kleinen und mittleren Betrieben fehlt aber bislang der Zugang, um sich dem Thema zu nähern. Dabei gibt es auch dafür bereits Hilfe. Gleichzeitig haben zahlreiche Unternehmen ein ungenutztes Fachkräftepotenzial, das sie ebenfalls noch nicht gehoben haben: Frauen, die in Teilzeit tätig sind. Hier können bessere und vor allem unternehmensnahe Kinderbetreuungsmöglichkeiten helfen. Wir haben uns zwei Beispiele angeschaut – und zeigen Hürden, aber auch Chancen auf, diese beiden Potenziale für das eigene Unternehmen nutzbar zu machen.

Wenn Christina Philipps von ihrem Praktikanten aus Ghana erzählt, gerät sie ins Schwärmen. „John ist hochmotiviert und hat sich sofort bei uns einbringen ­können“, sagt die Unternehmerin aus Bochum. Die Philipps GmbH & Co. KG ist laut ­eigener Aussage einer der größten Betriebe im Bereich der Haustechnik im mittleren Ruhrgebiet und bietet mit etwa 100 Beschäftigten Dienstleistungen rund um die ­Gewerke Sanitär, Heizung, Elektro sowie Klima und Lüftung an. Auch für ­Philipps wird es immer schwieriger, offene Stellen zu besetzen. Deshalb war sie von der Idee, jungen Menschen aus dem Ausland eine Chance in ihrem Unternehmen zu geben, schnell angetan.

Neue Chancen auf beiden Seiten
John Kofi Quarshie, 20 Jahre alt, ist einer von fünf jungen Ghanaern, die im März dieses Jahres für ein dreimonatiges Praktikum im mittleren Ruhrgebiet ankamen. Der Kontakt zu John und seinen Mitstreitern kam über die Stiftung „Von Werkstatt zu Werkstatt“ zustande, in deren Kuratorium Christina Philipps den Vorsitz innehat. „Unsere Stiftung unterstützt seit rund 30 Jahren die berufliche Aus- und Weiterbildung Jugendlicher durch die Förderung und den Aufbau von institutionellen Berufsbildungszentren weltweit. Partner vor Ort sind die Salesianer Don Bosco“, sagt Christina Philipps. Bei einem Aufenthalt in Ghana hat die Reisegruppe der Stiftung von dem Pilotprojekt „Solartechniker für NRW aus Ghana“ erfahren. Initiiert wurde dieses ­Projekt von der deutschen Außenhandelskammer in Ghana und den Salesianern Don Bosco, die in Ashaiman das „Don Bosco Solar Training Institute“ ­betreiben. „Wir haben die fünf Solateure noch vor Ort in Ghana kennenlernen können und waren direkt begeistert von der ­Motivation und Einstellung der jungen Männer. Ohne diese Reise wäre ich nicht auf die Idee gekommen, dass wir auch Azubis aus Ghana gewinnen können“, sagt Unternehmerin Philipps. „Es gibt viele junge Menschen, die aus Ghana rauswollen. Sie sehen das als Chance, sich eine neue Perspektive aufzubauen.“ Laut Philipps sei das eine Win-win-Situation: „Auch wir brauchen dringend junge Menschen, um unsere offenen Stellen zu ­besetzen.“ Zwar sei die angespannte Fachkräfte­situation in Deutschland nicht allein mit ­Migration in den Griff zu bekommen, aber „an der einen oder anderen Stelle wird uns die Zuwanderung aus dem ­Ausland helfen“, so Philipps weiter.
Die Unternehmerin ist sich jedenfalls sicher: John wird wiederkommen. Und er bringt für das Unternehmen wichtige Vorkenntnisse mit: „Die Ghanaer haben bereits einen Sprachkurs in Deutsch absolviert, bei Don Bosco eine Grundausbildung in Elektrotechnik sowie einen Aufbaukurs in Solartechnik genossen und kennen sich daher vor allem mit Photovoltaik sehr gut aus. Das sind Skills, die wir hier gut gebrauchen können“, sagt ­Philipps. „Schulabgänger aus Deutschland bringen in der Regel keine Vorkenntnisse mit.“ Die fünf Ghanaer, so ist zumindest der Plan, werden jetzt in ihrem Heimatland weiter Deutsch ­büffeln, um sich hier besser verständigen zu ­können. Dann sollen sie spätestens im Januar wieder zurückkommen. Das Ziel: im Ausbildungsjahr 2025/26 in eine Ausbildung zum Elektrotechniker zu starten – bei Philipps in Bochum und in vier weiteren ­Betrieben, auch in Herne und Witten.
Integration ins soziale Leben vor Ort ist wichtig fürs Wohlbefinden
Damit John und seine Mitstreiter sich hier wohlfühlen, sei es aber wichtig, sich auch nach ­getaner Arbeit um sie zu kümmern, sagt ­Christina Philipps. „Das müssen wir als Unternehmen ­leisten.“ Hilfe bei der Wohnungssuche, erste ­soziale Kontakte, vielleicht auch der ­gemeinsame Besuch beim heimischen Sportverein, um den ausländischen Fachkräften zu zeigen, was hier in der Freizeit möglich ist. „Erst dann fühlen sie sich auch wohl und möchten bleiben“, ist ­Christina Philipps überzeugt. Und dann sei da auch noch der ­monetäre Aspekt: „Das Unternehmen muss natürlich in Vorleistung gehen, zum Beispiel bei der Finanzierung der Sprachkurse.“ Es ist nachvollziehbar, dass viele Unternehmen diesen ­Aufwand scheuen, zumal es keine Garantie gibt, ob das Experiment „Ausländische Fachkraft“ auch funktioniert. Die Alternative sei allerdings ein weiterwachsender Fachkräftemangel mit allen negativen Folgen für das Unternehmen und seine Kundschaft, so Philipps.
John ist ­hochmotiviert und hat sich ­sofort bei uns ­einbringen ­können.
Die Unternehmerin freut sich auf Johns ­Rückkehr. „Das wird gut werden“, ist die Diplom-Ingenieurin überzeugt. Bis dahin müssen noch eine Menge bürokratischer Hürden genommen werden. Mit Blick auf eine fehlende Willkommenskultur in den deutschen Botschaften und Ausländerämtern sagt Philipps: „Da ist auch noch eine Menge Luft nach oben.“ Auszubildende und Fachkräfte aus dem Ausland: Ghanas Potenzial Deutschlands Bevölkerung wird älter - und das ist für Unternehmer:innen wie Christina Philipps eine große Herausforderung: Laut Prognose des Statistischen Bundesamtes gehen in den kommenden 15 Jahren etwa 13 ­Millionen Arbeitnehmer:innen der geburtenstarken ­Babyboomer-Generation in den Ruhestand – und hinterlassen damit eine Lücke auf dem Arbeitsmarkt. ­Nachrücker:innen gibt es wenige - wenn überhaupt.
In anderen Regionen der Welt ist die Situation umgekehrt. Dort prägen eine junge Bevölkerungsstruktur und eine hohe Jugendarbeitslosigkeit die Wirtschaft, so auch in Ghana. Im westafrikanischen Staat liegt das Durchschnittsalter bei 20,7 Jahren (zum Vergleich: Der Durchschnitt in Deutschland liegt bei 44,6 Jahren). Zeitgleich steht die Regierung vor der Herausforderung, ­Arbeitsstellen für Jugendliche und ­junge ­Erwachsene zu schaffen. Eine Erhebung des Ghana Statistical Service im Jahr 2023 ergab, dass etwa 1,5 Millionen der 15- bis 24-Jährigen weder in (Aus-)Bildung noch erwerbstätig sind und das teilweise trotz guter Ausbildung.
Geregelte Arbeitsmigration: ein Gewinn für beide Seiten
In Deutschland fehlen Arbeitskräfte, woanders finden Menschen keinen Job. Eine ­geregelte Arbeitsmigration kann eine Chance für die ­sozioökonomische Entwicklung von ­Ländern wie ­Ghana sein. Denn durch sie erhalten Bürger:­innen Zugang zu fachlichem Wissen und internatio­nalen Ausbildungen, die sie in ihrem Heimatland einsetzen können. Auch die Bundesregierung hat dieses Potenzial erkannt. ­Anfang 2023 richtete das Bundesministerium für wirtschaftliche ­Entwicklung und Zusammenarbeit das Angebot des ghanaisch-deutschen Migra­tionsberatungszentrums in der Hauptstadt Accra neu aus. Wo vorher Menschen vor allem bei der Remigration in ihr Heimatland unterstützt wurden, gehört jetzt auch die Beratung zu geregelten Migrationswegen nach Deutschland, in die EU oder andere afrikanische Staaten zum Portfolio. Das Ziel: Beide Seiten sollen von Arbeitsmigration profitieren – Deutschland gewinnt wichtige Fachkräfte, in Ghana wird die wirtschaftliche Entwicklung ­gefördert.
An diese gute Verbindung knüpft die Auslandshandelskammer (AHK) Ghana an. Die Vertretung der deutschen Wirtschaft unterstützt vor Ort ­junge Ghanaer:innen mit dem Programm ­„Apprenticeship-employment in Germany“ bei der aus Ausbildungsplatzsuche in Deutschland, ­inklusive Sprachkursen und interkulturellem Training. Außerdem organisiert die AHK alle zwei Jahre die Karrieremesse educataGhana. Neben Workshops und Diskussionspanels kommen bei dieser Veranstaltung junge Talente direkt mit deutschen Unternehmen in Kontakt. Unternehmensreise nach Accra im September Die zweitägige educataGhana ist in diesem Jahr auch Anlass für eine Unternehmensreise, ­welche die IHK Mittleres Ruhrgebiet und die IHK zu ­Essen Mitte September begleiten. „Wir ­werden in den kommenden Jahren auf Fachkräfte aus dem Ausland angewiesen sein. In Ghana ist ­besonders im gewerblich-technischen Bereich viel Potenzial vorhanden“, erklärt Dr. Katja Fox, Mitglied des Führungsteams der IHK Mittleres Ruhrgebiet. Während die Arbeitsmarktzulassung von internationalen Fachkräften und die Aner­kennung von ausländischen Abschlüssen mit bürokratischen Hürden verbunden sind, ist es leichter, angehende Auszubildende in Deutschland einzusetzen. Dr. Katja Fox: „Deshalb liegt ein Fokus der Unternehmensreise auch auf der ­Rekrutierung von Auszubildenden. Hier hat die AHK Ghana im Vorfeld Gesprächstermine für unsere mitreisenden Unternehmen mit jungen Ghanaer:innen organisiert.“
Wir werden auf ­Fachkräfte aus dem ­Ausland ­angewiesen sein.
Um passende Fachkräfte zu finden, müssen Unternehmen aber nicht immer weit reisen: „As our lives change from whatever, we will still be friends forever“, schmettern 24 Kinderstimmen zur Klavierbegleitung im Mehrzweckraum der ­Tagesbetreuung UniKids. Die angehenden Schulkinder üben den Song „Graduation“ für kommenden Freitag, wenn in der Kita ihr Abschiedsfest stattfindet und ein neuer Lebensabschnitt ­beginnt. „Wenn ich dieses Lied höre, kommen mir schon die Tränen“, sagt Kita-Leiterin Stefanie Neuhaus, die ihre Schützlinge durch die Glastür beobachtet. Sie und ihre Kolleg:innen betreuen aktuell 115 Mädchen und Jungen, deren Eltern zumeist an der Ruhr-Universität Bochum arbeiten oder studieren. Während Mama und Papa lehren, im Labor forschen oder in der Vorlesung sitzen, singt, spielt oder schläft der Nachwuchs nur ­wenige Meter entfernt. Auf Wunsch sogar bis 20 Uhr, denn der wissenschaftliche Betrieb ­richtet sich selten nach festen Kernarbeitszeiten.
Mütter müssen sich nicht mehr zwischen Kind oder Karriere entscheiden
„Wir bieten 35 oder 45 Stunden Betreuung an, wobei die meisten Familien die 45-Stunden-Option wählen. Wenn die Eltern darüber hinaus noch Bedarf haben, können sie zusätzlich die sogenannten Randzeiten dazubuchen“, erklärt Kerstin Tepper, Leiterin Soziales beim Akademischen Förderungswerk (AKAFÖ), dem Träger der Einrichtung. Die flexiblen Betreuungszeiten und die Nähe zur Arbeitsstelle nehmen den Eltern, aber besonders den Müttern die Entscheidung ab, sich für Kind oder Karriere zu entscheiden. „Fast alle unsere Mütter arbeiten in Vollzeit. Wir hatten sogar ­Mütter, die noch gestillt haben und zwischendurch vorbeigekommen sind“, so ­Stefanie Neuhaus. Und Kerstin Tepper ergänzt: „Die Wissenschaftler:innen kommen aus ganz Deutschland und dem Ausland an die Ruhr-Universität und haben kein lokales Familiennetzwerk.“ Wenn die Großeltern nicht mal eben das Kind von der Kita abholen können, ist Betreuung in unmittelbarer Nähe zum Arbeitsplatz ein Riesenvorteil - auch für den Arbeitgeber.
Fast alle ­unsere ­Mütter ­arbeiten in Vollzeit.
Kinderbetreuung als Attraktivitätsfaktor für die ­Arbeit­geber
Denn bei Bewerbungsverfahren wirbt die Ruhr-Universität mit der Kinderbetreuungseinrichtung am Arbeitsplatz. Besonders bei den Berufungsverhandlungen mit akademischen Spitzenkräften sei die Kinderbetreuung ein wichtiger Bonus, so Kerstin Tepper. „Viele Professorinnen und Professoren konnten in der Vergangenheit durch einen Kitaplatz gewonnen werden.“ Auf der einen Seite trägt dies zur Fachkräftegewinnung für die ­Universität bei, doch wie sieht es auf der Betreuungsseite aus? Bereits jetzt herrscht in NRW ein Mangel an Fachkräften – Tendenz steigend. Bis 2030 könnten bis zu 20.000 Fachkräfte fehlen, um der steigenden Nachfrage an Kinderbetreuung gerecht zu werden. Auch bei den UniKids ist die Warteliste für einen Platz lang. Mit Fachkräftemangel haben Stefanie Neuhaus und ihr Team jedoch noch nicht zu kämpfen, auch wenn es immer länger dauert, offene Stellen zu besetzen: „Wir sind aktuell richtig gut besetzt und über den KiBiz*-Standard ­aufgestellt. Auch im ­Winter sind wir ohne Kita- oder Gruppenschließung durchgekommen.“ Das AKAFÖ legt großen Wert auf eine solide Personalausstattung, um der Ruhr-Universität eine zuverlässige Betreuung zu bieten -- ein Anliegen und eine Verpflichtung ­zugleich. Dafür setzt der Träger auch bei den eigenen Fachkräften auf Fami­lienfreundlichkeit: Längere Eltern- und Auszeiten der Betreuer:­innen entfallen, da ihre Kinder ebenfalls bei ­Bedarf einen Platz bei den UniKids erhalten.
Zurück zur Musikprobe im Mehrzweckraum: Zwischen den ­Gesangs­­einlagen stellt ein ­Betreuer den Kindern Fragen auf Englisch, die prompt beantwortet werden. Natürlich auch auf Englisch, denn die Kommunikation ist zweisprachig. Zum Team ­gehören sechs sogenannte bilinguale Kräfte, die ausschließlich Englisch mit den Kindern sprechen. Diese zweisprachige Erziehung ist insbesondere für die internationalen Angestellten ein wichtiger Faktor bei der Entscheidung für die Ruhr-Universität als Arbeitgeber. Für eine Mitarbeiterin war dies auch eine glückliche Fügung: Ihr Abschluss als Lehrerin aus den USA wurde in Deutschland nicht anerkannt. Bei UniKids kann sie nun ihr pädagogisches Wissen einbringen.
Die Nachfrage für weitere Kitas am Campus sei da. Besonders bei den Studierenden vermutet Kerstin Tepper große Bedarfe in Bezug auf die Kinderbetreuung am Campus. Laut der größten Studierendenbefragung Deutschlands, die ­zuletzt 2021 stattgefunden hat, studieren fünf bis sieben Prozent mit Kind, Erhebungen vor Ort fehlen jedoch, um konkrete Zahlen zu nennen. Kerstin Tepper: „Wir sind froh über das, was wir anbieten können, und das ist ja schon jede Menge.“
* Das Kinderbildungsgesetz (KiBiz) in Nordrhein-Westfalen regelt die frühkindliche Bildung, ­Betreuung und Erziehung in Kindertageseinrichtungen sowie in der Kindertagespflege. Es legt unter anderem Standards für die Qualität der Betreuung fest. Kasten
AKAFÖ Seit 1971 hat das AKAFÖ auch die Betreuung von Kindern übernommen. Aktuell unterhält der Träger zwei Kindertagesstätten in Bochum: die Kita Lennershof und die 2011 eröffneten UniKids. In diesen Einrichtungen werden insgesamt etwa 200 Kinder betreut, damit sich ihre Eltern unbeschwert Studium und Lehre an der Ruhr-Universität und den umliegenden Hochschulen widmen können.