Pragmatisch, optimistisch, gut

Bochumer:innen ist Weitmar-Mark vor allem durch das Naherholungsgebiet Weitmarer Holz bekannt. Doch auch abseits von Waldwegen und Wildgehegen hat der Ortsteil vieles zu bieten: Traditionsbetriebe, innovative Ladenkonzepte und Unternehmer:innen, die sich für ihren Standort engagieren.
Von Anna Kalweit (Text) und Sascha Kreklau (Fotos)
Wochenmarkt Weitmar-Mark
9 Uhr auf dem Wochenmarkt am Pfarrer-Halbe-Platz. Nach dem frühmorgendlichen Ansturm können die Händler:innen kurz durchschnaufen. Christine Schäpers nutzt die ­Gelegenheit, um orangefarbene Dahlien zu einem herbstlichen Strauß zu binden. Von insgesamt 22 Jahren als ­Blumenhändlerin steht sie seit 15 Jahren dienstags und ­freitags mit Sonnenblumen, Rosen und Co. in Weitmark-Mark. Hier schätzt sie vor allem die familiäre Atmosphäre – zwischen den alteingesessenen Händler:innen, aber auch den Stammkund:innen: „Bekannte Gesichter zu sehen, das ist schon ein Anziehungspunkt für die Kundschaft.“
Aktuell beschäftigen sie vor allem die Strompreise. Diese seien zu Beginn des Jahres nach dem Wechsel des Marktbetreibers drastisch gestiegen. Die Kosten werden zwar auf alle Händler:innen umgelegt, aber diese werden eher weniger als mehr. Hinzu kommen Mautgebühren für ihren ­Kleintransporter, die seit Juli 2024 für Fahrzeuge mit mehr als 3,5 Tonnen fällig sind. Trotz der Herausforderung blickt Christine Schäpers optimistisch in die Zukunft: „Es gibt nur Aufgeben oder Weitermachen. Und wir machen weiter.“

Gegenüber von Blumen Christine gibt es einen Neuzugang. Die Brotbäckerei Artur Müller steht für 120 Jahre Backtradition und schlesische Spezialitäten, die viele Kund:innen aus ihrer Kindheit kennen. Heute steht Artur Klak hinter dem ­Tresen und reicht Großvaters Mohnkuchen und frische Roggenvollkornbrote aus dem Verkaufswagen. Der Familienbetrieb hat seinen Sitz in Schwelm und ist vor allem auf Märkten im Bergischen präsent; nach Weitmar-Mark kamen die Bäcker erst während der Coronazeit. Ein großer ­Vorteil des Marktes seien die zahlreichen Parkplätze und die Nähe zu den Geschäften und Arztpraxen an der Markstraße, so ­Bäcker Klak, bevor er sich der nächsten Kundin in der Schlange widmet.
Schnickschnack
Vom Wochenmarkt geht es über einen unscheinbaren Durchgang in die Markpassage. Ein echter Geheimtipp im Ortsteil, den selbst viele Anwohner:innen nicht kennen. Dabei befindet sich hier eine kleine Oase für Liebhaber:innen von Handwerk und Selbstgemachtem: der Gemeinschaftsladen Schnickschnack. Seit zehn Jahren verkaufen Bianca Weber, Ivonne Liese und ihre Partnerinnen hier handgefertigte Unikate. In einer Zeit, in der immer mehr Menschen den schnellen Weg des Online-Shoppings gehen, setzt Schnickschnack auf persönliche Begegnungen und individuelle Produkte.
Eines der herausragendsten Merkmale von ­Schnickschnack ist, dass jedes Produkt von den Betreiberinnen handgemacht ist. „Wir verkaufen keine Massenware. Alles, was man sieht, ist entweder selbst gemacht oder verschönert“, betont ­Bianca Weber. Ob Bienenhotels, Trockenblumen, Hundehalsbänder oder dekorative Karten – jedes Stück trägt die Handschrift seiner Herstellerin. Auch individuelle Anfertigungen für Hochzeiten, Geburten oder Einschulungen sind auf ­Bestellung möglich. Doch hinter dem charmanten Laden steckt viel mehr als nur schöne Handarbeiten.
Schnickschnack ist ein gemeinschaftliches Projekt, dass die drei Partnerinnen zusätzlich zu ihren Hauptjobs betreiben. „Die Voraussetzung für ein Verkaufsregal hier sind ein Tag im Laden, die Beteiligung an der Miete und natürlich, dass die Produkte selbstgemacht sind“, erklärt Bianca Weber, die ihr Regal vor allem mit bunter Puppenkleidung füllt. Und Ivonne Liese ergänzt: „Der Wunsch nach dem eigenen Laden war schon da. Aber wie soll man das allein stemmen, wenn man produzieren und gleichzeitig verkaufen muss? “ Der Gemeinschaftsladen ist die perfekte Lösung für die ausgebildete ­Keramikerin, die ihre Produkte im heimischen Brennofen produziert. Wie die anderen Partnerinnen hatte auch sie keine Vorerfahrung im Einzelhandel, alles haben sie in Eigeninitiative gelernt.
Die Regale im Schnickschnack sind gut gefüllt. Platz für ein bis zwei Mitstreiter:innen hat das Schnickschnack-Team aber noch. Produkte aus Filz oder Holz und Kinderkleidung ­stehen ganz oben auf der Wunschliste, um der Kundschaft ein noch größeres Sortiment zu bieten. Zuwachs bedeutet auch, dass die Öffnungszeiten erweitert werden können. Aufgrund der beruflichen und privaten Verpflichtungen hat Schnickschnack Montag Ruhetag. Trotz aller Bemühungen hat sich die Suche nach leidenschaftlichen Hobbyhandwerker:innen bisher schwierig gestaltet. „Wir verstehen gar nicht, warum sich niemand findet, der mitmachen möchte“, bedauert Ivonne Liese. Also: Wer das kreative Handwerk liebt und Teil einer engagierten Gemeinschaft werden ­möchte, ist herzlich willkommen.
Café Marinic
Café MariNic – klingt das nicht nach einem Sommernachmittag an der französischen Côte d’Azur? Tatsächlich ist das Lokal in der Markpassage eine kleine Ruheoase, die ­Nicole Grotthaus seit 2001 betreibt. In den letzten 23 Jahren hat sich das MariNic gewandelt, doch die Grundidee blieb: ein Ort der Begegnung und Entspannung. „Am Anfang war die Lage schwierig, aber mittlerweile ist es genau das, was den Charme ausmacht. Wir sind ein kleiner Rückzugsort, nicht direkt an der Straße, wo die Leute zur Ruhe kommen können“, so Grotthaus. Ruhe musste die engagierte Betreiberin auch erstmal lernen. Gerade die Anfangszeit war von intensiver Arbeit geprägt. Sieben Tage in der Woche stand sie als Chefin im Café. Heute hat der Laden auch Ruhetage, denn: „Wenn man immer nur arbeitet, hat man keine Kraft für ­etwas Neues.“
An diesem Spätsommertag zeigt das Thermometer 26 Grad an. Die Besucher:innen lassen sich ihren Kuchen auf den schattigen Plätzen in der Passage schmecken, plauschen miteinander. „Von den Brötchen bis zu den Dips ist alles hausgemacht. Das ist schon etwas, was uns ausmacht,“ sagt Grotthaus. Das Frühstück wird in reichbestückten Etageren am Platz serviert. Das kommt gut an, ist aber in der Corona-­Zeit entstanden, als das beliebte Frühstücksbüfett nicht mehr angeboten werden durfte. Die Etageren sind auch ein Gewinn für die Nachhaltigkeit: „Wir haben bemerkt, dass wir so deutlich weniger Lebensmittel entsorgen als früher.“
Ein weiteres Highlight im Café sind Sonderveranstaltungen wie Musikabende mit Live-Bands, Lesungen, Weihnachtsmarkt oder wie die gerade veranstaltete „Kulinarische Gaumenreise“. „Das ist wie ein Tapas-Abend, aber ohne sich auf ein Land zu beschränken. Wir servieren immer neue Gerichte aus verschiedenen Regionen, und die Gäste können sich durchprobieren.“ Solche Events sind ein wichtiger Bestandteil des Konzepts: „Man muss sich ständig neu erfinden, auch um den Gästen immer wieder etwas Besonderes zu bieten.“ Das Café ist mehr als nur ein Ort zum Essen und Trinken. Es ist ein sozialer Treffpunkt, wichtig für die Menschen im Viertel. „Viele Freundschaften sind hier entstanden. Auch für alleinstehende ältere Menschen ist das MariNic ein wichtiger Ort, an dem sie Anschluss finden.“
Seit einiger Zeit gibt es gegenüber einen kleinen Dekoladen, den Nicole Grotthaus ebenfalls führt. „Während Corona hatte ich endlich die Zeit, die Idee umzusetzen, auch Deko anzubieten.“ Im Ladenlokal findet man ausgewählte Wohnaccessoires, oft in kleiner Auflage. „Wir haben hier keine Massenware, sondern vor allem Einzelstücke, die ich oft aus Holland mitbringe“, so Grotthaus. Eine lokale Schmuckdesignerin ­ergänzt das Angebot mit ihren Stücken.
Auch das Team, das Nicole Grotthaus um sich herum aufgebaut hat, ist ein wesentlicher Teil des Erfolgs. „Ich habe sieben Mitarbeiterinnen, die mich unterstützen. Wir sind ein tolles Team, es passt einfach. Viele sind schon lange bei mir, und das merkt man auch im Betrieb.“ Trotz aller Herausforderungen – besonders durch die Pandemie, als fast alle ihrer ehemaligen Mitarbeitende andere Wege eingeschlagen hatten – hat sie es geschafft, wieder ein stabiles Team aufzubauen. Ihr Wunsch für die Zukunft? „Dass es so weitergeht wie jetzt. Ich bin wirklich sehr zufrieden.“
Blickfang
Das Ladenlokal mit den großzügigen bodentiefen ­Fenstern hat Sabine Mallach-Mengel schon immer gut ­gefallen. Als ein:e Nachmieter:in gesucht wurde, ergriff sie ihre ­Chance, sich selbstständig zu machen – wenn auch anders als ­gedacht. „Mein Businessplan für ein Café wurde abgelehnt, und dann kam der Gedanke: Warum nicht Fashion und Deko? “, ­erzählt sie. Seit sieben Jahren führt Sabine Mallach-Mengel ihr Geschäft Blickfang, das sie mit viel Engagement aufgebaut hat. Besonders die Anfangszeit empfand die ­gelernte Kauffrau als herausfordernden Lernprozess, an dem sie aber auch gewachsen ist.
Ein gutes Auge für Kleidung und Einrichtung hatte Sabine ­Mallach-Mengel schon immer. In ihrer neuen Rolle als Inhaberin eines Modegeschäfts setzte sich die Mutter von sechs erwachsenen Töchtern mit Marken und Herstellern auseinander. Im Laden finden sich exklusive Mode- und Dekoartikel, die sorgfältig ausgewählt werden. „Hochwertige Materialien wie ­Wolle und Leinen sind mir wichtig. Und die Wohnaccessoires stammen oft aus kleinen familiengeführten Betrieben in Europa“, erklärt die Unternehmerin. Das Sortiment reicht von ­klassischen Stücken bis hin zu ausgefallenen Statement-­Teilen – alles, was das Fashion-Herz ­höherschlagen lässt, ohne dabei auf Nachhaltigkeit und Qualität zu verzichten. Bei der Beratung setzt die Inhaberin auf Ehrlichkeit: „Wenn ein Outfit nicht zu einer Person passt, sagen wir das auch. Unsere Kundinnen wissen das zu schätzen.“

Wir tun alles, um den Standort Weitmar-Mark attraktiv zu halten.
Doch das Geschäft ist nicht nur ein Ort für Mode. Hier spielt ­Digitalisierung eine zentrale Rolle. „Unser Laden ist komplett digitalisiert. Von der Buchhaltung über die Warenwirtschaft bis hin zum Online-Shop ist alles miteinander verknüpft. Das ist im Einzelhandel noch nicht so selbstverständlich“, so Ehemann André Mallach, der seine Frau im Bereich Accounting unterstützt. Gibt es mal beim Kassensystem in ihrer Abwesenheit ein Problem, kann die Inhaberin remote darauf zugreifen.
Über die Herausforderungen des Stadtteils ist sich das Ehepaar Mallach-Mengel bewusst. Der geplante Neubau des Edeka-Supermarkts, der bereits seit neun Jahren auf sich warten lässt, ist ein großes Thema unter den ansässigen Händler:innen. „Es fehlt einfach ein Vollsortimenter hier. Viele Kunden müssen in andere Stadtteile fahren, weil es hier keinen Supermarkt mit Frischetheke gibt“, ­beschreibt ­Sabine Mallach-Mengel die Lage. Auch Leerstand ­schmälere die Kaufkraft und Laufkundschaft im Viertel. Für die ­Metzgerei an der Karl-Friedrich-Straße ging Sabine ­Mallach-Mengel persönlich auf Nachfolgesuche und sprach mit Innungen sowie Metzger:innen im Umkreis. Trotz hervorragender Lage bleibt das Ladenlokal vorerst unbesetzt: Es fehlt an ­Fachkräften.
Ganz pragmatisch übernahm Sabine Mallach-Mengel in ­einem anderen Fall selbst die Nachfolge. In der ehemaligen Eiskirch-Filiale an der Markstraße eröffnete Ende September ihr zweiter Laden „Glücksfang“. Bis auf die Namensänderung und eine bauliche Auffrischung läuft der Standort mit dem altbewährten Konzept und demselben Mitarbeiterstamm weiter – zur Freude der Sonst Kund:innen. Sabine Mallach-Mengel: „Wir tun alles, um den Standort Weitmar-Mark attraktiv zu halten.“
Zum Neuling
Dienstag ist bei Zum Neuling Ruhetag – doch wirklich ­ruhig ist es in der Traditionsgastronomie nicht. In der Küche räumt Senior-Chef Julius Schmidt die Einkäufe aus dem Großmarkt ein. Ehefrau Gisela streift durch die Gasträume, die Platz für mehr als 90 Personen bieten. In einem Alter, in dem ­andere schon lange im Ruhestand sind, steht das Ehepaar mit über 80 Jahren noch hinter Herd und Tresen. „Meine ­Eltern brauchen die Arbeit, aber vor allem freuen sie sich über die ­Gäste“, lacht Tochter Katja Thoma-Schmidt, die 2021 die Leitung des Unternehmens übernommen hat. Zum ­Neuling ist ein echter Familienbetrieb, denn auch ihr Bruder Axel, der 2021 nach schwerer Krankheit verstarb, machte sich als Chefkoch in Bochum und Umgebung einen Namen.
„Der Neuling hat eine richtig lange Geschichte und viele schöne Geschichten“, erzählt Thoma-Schmidt. Gegründet wurde das Lokal im Jahr 1900, als Weitmar-Mark noch aus Feldern bestand und die Gäste mit der Kutsche anreisten. Später tranken hauptsächlich Bergleute nach der Schicht ihr Feierabendbier am Tresen, Soleier und Frikadellen standen auf der Speisekarte. Tauben-, Fußball- und Gesangsvereine fanden im Neuling einen Treffpunkt. Und damals wurden die Ehen vieler heutiger Stammgäste im Tanzsaal gestiftet. Auch Gisela und Julius Schmidt lernten sich hier beim ­Tanzen kennen. Als frischgebackenes Ehepaar übernahmen sie 1964 Zum Neuling. Nach dem Komplettumbau gibt es den alten Tanzsaal nicht mehr, dafür aber 16 Hotelzimmer in den ­oberen Stockwerken. Am Wochenende übernachten hier Gäste von Familienfeiern oder Musicalbesucher:innen, unter der Woche sind es hauptsächlich Geschäftsreisende.
Wer Zum Neuling das erste Mal besucht, darf sich nicht von der rustikalen Holzeinrichtung täuschen lassen. Ja, gutbürgerliche Gerichte wie Rinderrouladen und westfälisches Schnitzel stehen auf der Speisekarte, ebenso aber auch vegane Linsenlasagne. Thoma-Schmidt: „Wir sind experimentierfreudig und wollen gerne auch jüngere Leute ins Restaurant holen.“ Nicht nur als Gäste, sondern auch als Mitarbeitende. Das sei heute nicht so einfach, so Thoma-Schmidt. Sie glaubt, dass Abend- und Wochenendarbeit für die jüngere Generation ein Ausschlusskriterium und die ­Gastronomie daher nicht mehr attraktiv sei. Für sie steht aber fest: „Es ist der schönste Beruf der Welt.“
Entscheidender Faktor dafür sind vor allem die 15 Mitarbeitenden, die mehr Familie als Angestellte sind. „Wir haben das tollste Team, das mit uns durch dick und dünn geht.“ In den letzten Jahren mussten die Schmidts mehrere Schicksalsschläge meistern. 2019 erkrankte Küchenchef Axel Schmidt schwer und zog sich aus dem Restaurant zurück. Die plötzlich entstandene Lücke in der Küche kompensierten Vater Julius sowie die Jungköche, die mit riesigem Engagement die Herausforderung meisterten, selbstständig zu arbeiten. Dann kam die Pandemie, Restaurants blieben geschlossen. Doch die Schmidts stellten gewohnt pragmatisch auf ­Liefer- und Abholservice um; dadurch konnten alle wie gewohnt weiterarbeiten. Die gastfreie Zeit nutzte das Team für Renovierungsarbeiten. „Wir sind an Corona gewachsen. Ich hoffe, dass nie einer unserer Mitarbeiter geht“, sagt Katja Thoma-Schmidt und klopft auf den Tisch.
Wir sind nicht zum Aufgeben geboren.
Auch die steigenden Energiekosten und die wachsende Bürokratie sind Herausforderungen, von denen sich die Schmidts nicht beeindrucken lassen. Eine große Hilfe ­dabei ist Katja Thoma-Schmidts Sohn Felix, der Betriebswirtschaft studiert: „Heute ist Gastronomie ohne einen besonnenen Menschen mit rechnerischem Verstand gar nicht mehr ­möglich.“ Manches läuft im Neuling aber weiterhin ganz klassisch: „Wir nehmen Bestellungen noch mit Zettel und Stift auf. Das ­mögen manche oldschool finden, aber ein paar alte Schätze sind doch ganz praktisch, wenn das W-LAN nicht funktioniert“, lacht Thoma-Schmidt. Und dann ergänzt sie noch: „Wir sind nicht zum Aufgeben geboren.“