Bochums angesagter Kiez

Zwischen Brückstraße, Herner Straße und Stühmeyerstraße haben sich viele kleine Läden, Cafés und Bars angesiedelt. Sie ergänzen die alteingesessenen Geschäfte wie den Spielwarenladen Umbach-Schamell und das Einrichtungshaus Blennemann. In der KoFabrik sind außerdem neue Firmen zu Hause, die sich in die Nachbarschaft einbringen. Klingt nach einem Viertel mit Zukunft – wir gehen auf Streifzug durch den Kortländer Kiez im Norden der Bochumer Innenstadt.
Von Christina Kiesewetter (Text) und Sascha Kreklau (Fotos)

SAYV Store – nachhaltige Mode

Die farbenfrohe Mode bildet im SAYV Store den perfekten Kontrast zur unverputzten Betonwand und der offenen Decke. Alexandra Tynski führt durch ihren Laden und kann zu jedem Kleidungsstück im Store an der Herner Straße 14 eine Geschichte erzählen. Ihr Konzept: wirklich nachhaltige Mode anbieten, die zeitlos und modisch ist. Sie selbst trägt dabei eine braune, hochgeschlossene Latzhose aus Bio-Baumwolle, die man sofort selbst haben möchte. „Das ist ein gut funktionierendes Marketingkonzept“, sagt die junge Frau lachend. „Wir tragen Sachen aus unserem Laden und werden dann von Kund:innen darauf angesprochen.“ Dabei geht es nicht nur um nachhaltige Mode, sondern auch um „genderless fashion“. Ihr Laden ist nicht nach männlicher und weiblicher Mode sortiert, jede:r soll einfach nach dem stöbern, was er oder sie schön findet. „Manchmal sortiere ich hier nach Marken, manchmal nach Farben, manchmal nach passenden Komplett-Outfits“, erklärt die gelernte Grafikdesignerin.
Vor einem Jahr wagte sie das Abenteuer eines eigenen Stores im Kortländer Kiez. Musikproduzent Markus Schichtherle ist ihr Bekannter und Vermieter – er ist ein Mitinitiator des ganzen Projekts, hat selbst sein Tonstudio im Gebäude nebenan und betreibt das Café KRTLND ums Eck. Direkt neben dem SAYV Store lädt die OA Weinbar von Simon Jakob auf ein Glas ein. „Wenn ich Kund:innen hier im Store lange beraten habe, dann kann ich einfach sagen: Geh gerne mal nebenan einen Kaffee oder einen Wein aufs Haus trinken“, erzählt Alex Tynski, und man sieht ihr an, wie gut es tut, dass sich der Kortländer Kiez bei allem Geschäftlichen sehr familiär anfühlt. Auch Models und Fotograf:innen hat sie schon direkt aus dem Kiez rekrutiert. „Ohne die Community hier würde das nicht funktionieren.“
Das Geschäftliche treibt sie aber auch etwas um. „Ein bisschen lebe ich immer im Widerspruch. Ich werbe für Nachhaltigkeit, aber fördere natürlich trotzdem den Konsum.“ Deshalb sage sie sich immer, „wir ermöglichen hier besseren Konsum, aber wir sind nicht perfekt“. Sie achtet darauf, nur Brands mit zwei Kollektionen im Jahr zu ordern, die dann sechs Monate Vorlaufzeit haben. „Es wird also nur nach Bedarf produziert.“
„Ohne die Community hier würde das nicht funktionieren.“
Alex Tynski
Die Inhaberin bringt viel Erfahrung aus der nachhaltigen Modebranche mit, hat 2016 bereits die Handelsagentur Matilda Agency für nachhaltige Mode gegründet, mit der sie ausgewählte Labels in Deutschland, Belgien und den Niederlanden in den Einzelhandel bringt.
Ihr Ziel ist es, durch den Store Nachhaltigkeit zu einem noch größeren Standard in der Gesellschaft zu etablieren und dem Team diese Philosophie mitzugeben. „Ich habe absolutes Vertrauen in meine Mitarbeiter, wir bauen das hier zusammen auf, und nur deshalb kann ich mich regelmäßig für die Handelsagentur aus diesem Projekt rausziehen.“
Das teuerste Produkt im Laden ist derzeit eine Bluse aus zertifizierter Seide aus Spanien: 249 Euro. Zertifiziert bedeutet etwa: Die Seide wird erst nach dem Schlüpfen der Raupe aus dem Kokon gewonnen, damit keine Tiere sterben. Alex Tynski bietet aber auch Vintage-Mode an und setzt dabei zum Beispiel auf Edelmarken wie Lagerfeld oder Prada. Ihr Anspruch ist, dass jede:r im Laden fündig wird, egal wie dick der Geldbeutel ist. „Wer in den SAYV Store kommt, soll sich selbst oder anderen eine Freude machen.“

Bildergalerie von unserem Streifzug

Spielwaren Umbach-Schamell

Nur weniger Meter weiter liegt seit 1951 der Spielwarenladen Umbach-Schamell, den Irmela Umbach-Schamell 1980 von ihrem Vater übernommen hat. Seitdem steht sie im Laden und denkt auch heute mit 77 Jahren noch nicht daran, kürzer zu treten. Diese Karriere deutete sich allerdings noch nicht an, als sie noch ein kleines Mädchen war. „Ich war die Schnellste zu Hause, deshalb musste ich meinem Vater immer das Mittagessen in den Laden bringen. Wenn er sich zum Essen zurückgezogen hat, stand ich hinter dem Tresen und dachte nur: Lieber Gott, lass keine Kunden kommen! Ich hatte früher Angst vor Leuten.“
Davon merkt man heute nichts mehr. Das Geschäft ist selbstredend härter geworden, die Konkurrenz im Internet ist vor allem bei der Standardware Playmobil, Lego, Puzzle und Gesellschaftsspiele groß. Die Fachfrau schmeißt den Laden nach wie vor auf Papier. „Ich habe keinen Computer, Kartenzahlung ist aber möglich!“ Trotz aller Widrigkeiten will Irmela Umbach-Schamell von Ruhestand nichts wissen. „Das ist hier mein Hobby, Spielwaren sind die schönste Branche der Welt!“
Und sie hat ihre Nische gefunden: Den Hauptumsatz macht sie an Halloween und Karneval. Kistenweise bestellt sie Deko und Kostüme, schmückt mit großem Aufwand die Schaufenster und lockt so die Freund:innen der Halloween-Deko und der jecken Jahreszeit ins Geschäft. Auch von weit her kommen die Kund:innen dann. „Ich führe auch einen der wenigen Läden, die noch die kleinen, klassischen Scherzartikel anbieten: ein blutiges Ohr für Halloween, ein Furzkissen fürs Lehrerpult, Plastik-Spinnen, um die Geschwister zu erschrecken – gibt’s alles für kleines Geld in der Herner Straße.
„Das ist hier mein Hobby, Spielwaren sind die schönste Branche der Welt!“
Irmela Umbach-Schamell
In Fachzeitschriften sucht sie regelmäßig aus, was sie sich in den Laden kommen lässt – und kann jeden Spaßartikel fachgerecht vorführen. Also sollten die Bochumer:innen, die ums Eck wohnen, ihre Kinder öfter mit ein bisschen Taschengeld zu Irmela Umbach-Schamell ins Kinderparadies schicken. Sie werden fachgerecht beraten, womit man den besten Schabernack treiben kann.

Einrichtungshaus Blennemann

Noch länger als die Familie Umbach-Schamell ist das Einrichtungshaus Blennemann am Markt, nämlich seit 1856. Die ersten Kund:innen des Möbelhauses konnten anschließend noch in die legendäre Gastwirtschaft von Ferdinand Kortländer einkehren, die es von 1879 bis 1913 in dem Haus gab, an dem Herner und Dorstener Straße aufeinandertreffen. Noch heute erinnert der Schriftzug „Kortländer“ daran; es ist in Sichtweite von Blennemann.
In vierter Generation wird das Familienunternehmen bereits geführt, in Kürze übernehmen die Söhne und Cousins Niklas und Sebastian von ihren Vätern. Die Senioren Peter und Ralf Blennemann sind am Kortländer aufgewachsen. Als Peter durch sein Einrichtungshaus geht und bei einer Esstisch-Gruppe ankommt, sagt er: „Hier hat früher mein Kinderbett gestanden. Auf dem Hinterhof haben wir gespielt, ich bin Jahrgang 1952, da lag noch vieles in Schutt und Asche.“ Wegen der Stahlfabrik nebenan (heute die KoFabrik) haben viele Kinder im Umfeld gewohnt. „Mein Großvater hat im Hinterhof einen großen Sandkasten für alle aufgebaut; hier war immer was los.“ Wenn das Geschäft geschlossen war, durften die Kinder auch mal mit dem Dreirad den 45 Meter langen Flur entlangdüsen.
„Im Laden ist immer ein Blennemann – egal in welchem.“
Peter Blennemann
Schreitet man heute durch die Etagen des Einrichtungshauses, stellt man schnell fest: Das mit dem Dreiradrennen funktioniert wohl so nicht mehr. Hochwertige Möbelmarken wie Kettnaker, Interlübke, Rolf Benz und Vitra werden mit edlen Accessoires, perfekter Ausleuchtung und geschmackvoller Dekoration in Szene gesetzt. Es lässt sich rasch ausrechnen, dass es wohl nicht die Schlender-Kundschaft ist, die zuvor ein Craftbeer in der Trinkhalle genießt, um sich dann bei Blennemann noch rasch einzurichten. „Unsere Kunden kommen aus ganz Deutschland, Laufkundschaft spielt fast keine Rolle mehr“, sagt Peter Blennemann. „Und 70 Prozent unseres Umsatzes machen wir nicht in Bochum, sondern bundesweit.“
Wer bei Blennemann kauft, schätzt die persönliche Beratung und den Rundum-Service. Alle Gewerke gibt es aus einer Hand. „Mein Neffe ist erst kürzlich aus Sylt zurückgekehrt“, gibt der Senior-Chef ein Beispiel. Dort richtet das Unternehmen komplette Ferienhäuser ein. Von der Innenarchitektur über den Bodenbelag, das Mobiliar, die Küche, die Beleuchtung bis zu den Gartenmöbeln. „Auch auf den Balearen sind wir gut im Geschäft, Büros und Hotel gehören ebenso zu unseren Kunden.“ Wichtig ist dem Haus aber, dass budgetorientiert gearbeitet wird: Die Kundin bzw. der Kunde nennt einen Rahmen, Blennemann zeigt, was damit möglich ist. Um die Investition gut durchdenken zu können, gibt es fotorealistische Planungen und Renderings. Das heißt, die Möbel werden in Fotoqualität in den eigenen Raum projiziert. Das sieht täuschend echt aus.
Gerade wird das Einrichtungshaus an der Brückstraße umgebaut, auch der Online-Shop wächst. Dennoch ist der Familie wichtig: „Im Laden ist immer ein Blennemann – egal in welchem.“ Das Unternehmen hat drei Standorte – zwei in Bochum, einen in Duisburg. Wie der Laden an der Brückstraße zu den neuen Nachbar:innen im Kortländer Kiez steht? „Natürlich ist deren Kundschaft nicht unsere Zielgruppe“, sagt Peter Blennemann. „Aber wir begrüßen es, dass sie das Viertel beleben, und unterstützen auch die Straßenfeste, die veranstaltet werden.“ Aus seiner Design-Sicht schmerzt ihn natürlich etwas der Vintage-Look der Außengastronomie. „Ich habe schon angeboten, dass es unsere Outdoor-Möbel zum Einkaufspreis gibt“, berichtet er schmunzelnd. „Da gab es aber kein Interesse.“ Er hat genug Geschäftserfahrung, um zu wissen, dass man über Geschmack nicht streiten sollte. Wenn sein Blick vom Einrichtungshaus hinüber zum Kortländer geht, freut er sich über die vielen jungen Leute. Aber die Sitzgelegenheiten, die sie benutzen, die möchte er schon noch gerne auswechseln.

Trinkhalle

Tja, wie soll man sich da entscheiden? Drei Kühlschränke voller bunter Bierflaschen! Da hilft nur eine Fachberatung. Mitarbeiter Don fragt: „Was magst du denn?“ Malzig, aber nicht zu herb. „Aha, dann probier‘ mal das hier! Mücke Export! Mücke hieß das letzte Grubenpferd auf Zeche Zollverein.“ Die kleine Essener Brauerei macht nach eigener Aussage „kein Brimborium“, eben einfach nur leckeres Bier. Solche Geschichten und Slogans lieben die Gäste der Trinkhalle an der Herner Straße. Tom Gawlig hat den Laden hier vor fast zehn Jahren eröffnet. Der Name ist Programm: Es gibt hier einfach einen Tresen, viele Sitzgelegenheiten und richtig gutes Craftbeer. Gawlig legt Wert auf Bier aus Familienbrauereien, bestellt vor allem in Franken und Belgien. „Das ist für uns natürlich ein Riesenspaß, dort unterwegs zu sein und zu verkosten.“
„Die Umgebung hier im Kortländer Kiez ist für uns sensationell, aber wir müssen schon was tun.“
Tom Gawlig
Gawlig hat vier feste Mitarbeiter:innen, aber „es wird härter, Geld zu verdienen nach Corona“. Die Menschen bleiben öfter zu Hause, gehen weniger raus, halten ihr Geld mehr zusammen. Oder mit Gawligs charmant-deutlichen Worten: „Weniger gut gelaunte Leute kommen später und gehen früher.“ Er zwinkert der Reporterin zu. „Das meine ich natürlich nicht ernst, unsere Gäste sind die besten!“
Dennoch: „Die Umgebung hier im Kortländer Kiez ist für uns sensationell, aber wir müssen schon was tun.“ Deshalb plant Gawlig wieder Mitsing-Abende, Ping-Pong- und Kicker-Turniere, Bier-Akademien, Ausstellungen, Lesungen und anderes. Wer einmal ein kühles Mücke in der Trinkhalle genossen hat – übrigens im Glas, es schmeckt wirklich anders – der ist sich sicher: Mit Musik, Tischtennis, Kunst und Literatur will man gar nicht mehr weg hier.

KoFabrik

In der früheren Eisenhütte an der Stühmeyerstraße wird heute wieder malocht. Allerdings eher mit dem Kopf als mit den Händen. Die KoFabrik wird von einer gemeinnützigen Projektgesellschaft betrieben, der Urbanen Nachbarschaft Imbuschplatz gGmbH. Sie wurde gegründet von den Montag Stiftungen aus Bonn und soll unternehmerisches Handeln mit einer gemeinwohlorientierten Entwicklung verbinden. Geschäftsführer Henry Beierlorzer macht es konkret: „Junge Unternehmen oder Freiberufler erhalten günstige Raummieten in unserem Pionierhaus und verpflichten sich im Gegenzug, Zeit und Kompetenz für gemeinnützige Projekte in der Nachbarschaft einzubringen – das kann von der Hausaufgabenbetreuung bis zur Organisation von Nachbarschaftsfesten reichen.“
Mit diesem Konzept hat die Stadt das denkmalgeschützte Gebäude 2018 an die gemeinnützige GmbH für 60 Jahre in Erbpacht vergeben. Im Mai 2019 waren schon die ersten Mieter drin. „Jeder trägt das bei, was ihm liegt“, sagt Henry Beierlorzer. „Mittlerweile wurde der gemeinnützige Verein Quartiershalle in der KoFabrik e.V. gegründet, der mit vielen Akteuren aus der Nachbarschaft von Kulturschaffenden bis zum Kinder- und Jugendheim St. Vinzenz oder der Hochschule THGA zusammenarbeitet.“
„Junge Unternehmen oder Freiberufler erhalten günstige Raummieten und verpflichten sich im Gegenzug, Zeit und Kompetenz für gemeinnützige Projekte in der Nachbarschaft einzubringen.“
Henry Beierlorzer
Die Fläche ist komplett vermietet, es gibt kaum Fluktuation. Mittlerweil gehören auch ein gut laufendes Café (Stüh33Café) und ein kleiner Buchladen (Buch ImBusch) zum Gesamtbild der KoFabrik. In den teilweise durch Aufstockung neu geschaffenen Quartiersbüros werden höhere Mieten abgerufen. Hier gibt es keine explizite Verpflichtung zur Gemeinwohlarbeit im Viertel; gleichwohl sind die Mieter:innen ebenfalls in Projekten engagiert. Hier sitzen die Firmen Grubengold, Kemper und neue fische. „Die Überschüsse, die in diesem Teil erwirtschaftet werden, stecken wir in unsere Quartiershalle – das war früher eine Wagenremise und ist heute das Herzstück der KoFabrik“, erklärt Beierlorzer. Für kleinere Veranstaltungen, Workshops, Kurse und Gruppen wird die Halle vermietet. „Wir stellen den Raum, die Gruppen müssen ihn aber selbst herrichten und auch für das Catering sorgen“, erklärt Lisa van Bonn vom Verein Quartiershalle in der KoFabrik. Aus der Nachbarschaft gibt es auch viele Anfragen für Geburtstagsfeiern und Hochzeiten. „Da müssen wir aber immer ablehnen, weil das hier im Wohnviertel zu laut wäre.“ Beim Preis gilt: Zahle, was du kannst. Kleine Gruppen ohne Budget zahlen nur einen symbolischen Beitrag und werden dann von zahlungskräftigeren Mieter:innen subventioniert.
Auf den 2.000 Quadratmetern der KoFabrik wird also nicht nur gearbeitet, es wird auch Kaffee getrunken, in Büchern geschmökert und die Bewohner:innen des Viertels haben einen Treffpunkt für Hobbys, Begegnungen und Kultur. Auch Co-Worker:innen können sich einbuchen. In der Nachbarschaft entstehen neue Gastro-Angebote wie Hi Kalle an der Dorstener Straße in direkter Nachbarschaft zur Kult-Eisdiele Kugelpudel – damit könnte der Kortländer Kiez langsam in die Richtung Stühmeyerstraße weiterwachsen. Es wäre für alle ein Gewinn.

Unsere Streifzüge
In jeder Ausgabe der WiR picken wir uns ein Viertel oder einen Stadtteil in unserem Kammerbezirk heraus und stellen dortige engagierte Firmen, Geschäfte, Gastronomie und Initiativen vor. Die redaktionelle Auswahl erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.