Fachkräfte
Bitte probieren!
Bei der Berufs- und Studienwahl haben viele Jugendliche große Orientierungsschwierigkeiten. Das belegt eine Studie der Bertelsmann Stiftung von 2022. Die Ursachen sind vielfältig, reichen von Elternhaus, über die Schule bis hin zur Wirtschaft. Und sie werden noch verstärkt durch die Nachwirkungen der Corona-Pandemie, die schlichtweg keine Möglichkeiten bot, in Unternehmen Praxisluft zu schnuppern. Auf dieses Dilemma haben die Berliner Hochschulen reagiert: Fast jede bietet mittlerweile sogenannte Orientierungsstudiengänge an.
Das O Ja! Orientierungsjahr bietet zahlreiche Projekte, etwa im „Maker Space“ der HTW Berlin, einem Arbeitsbereich zum Planen, Entwerfen und Kennenlernen.
© Nadine Köcher, Marina Jack
Ausbildung so wertig wie Studium
Das O Ja! Orientierungsjahr bietet zahlreiche Projekte, etwa im „Maker Space“ der HTW Berlin, einem Arbeitsbereich zum Planen, Entwerfen und Kennenlernen.
© Nadine Köcher, Marina Jack
Einen gänzlich neuen Weg bestreitet die Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) Berlin mit dem „O ja! Orientierungsjahr“. „Bei uns können die Teilnehmenden die Möglichkeiten sowohl bei der Ausbildung als auch beim Studium kennenlernen, und zwar nicht nur theoretisch, sondern ganz praktisch“, betont Sven Gorholt, Wissenschaftlicher Projektmitarbeiter. Beide Bildungswege würden gleichwertig präsentiert, damit die Entscheidung für ein Studium oder für eine Ausbildung offen und fundiert getroffen werden kann. Diese Art der Hilfestellung gibt es sonst nirgendwo in Deutschland.
Eine Ausbildung wird oft weniger wertig als ein Hochschulstudium betrachtet. Junge Menschen tendieren daher dazu, zuerst ein Abitur oder Fachabitur zu machen und anschließend ein Hochschulstudium. In der Berufsbildungsforschung ist jedoch bekannt: Für Betriebe ist das duale Ausbildungssystem ein wichtiger Fachkräftekanal. Und für junge Fachkräfte ist die Ausbildung eine aussichtsreiche Karriereentscheidung mit höherem Lebenseinkommen als der Weg über das Studium. Auch bei der formellen Gleichwertigkeit der Bildungssysteme müssen keine Abstriche gemacht werden: Über den Deutschen Qualifizierungsrahmen (DQR) sind die Stufen der Bildungssysteme angeglichen, und auch über die berufliche Bildung lässt sich nach der Ausbildung das Bachelor- und Master-Niveau erreichen.
O ja! ist in das bundesweite, vom Bundes- ministerium für Bildung und Forschung geförderte Programm VerOnika up! eingebunden. Neben der Weiterentwicklung der Beratungsqualität wird auch ein wissenschaftliches Fundament gegossen, auf dem zukünftige Orientierungsangebote aufgebaut werden sollen. Ziel ist, eine sogenannte Bildungswegwahlkompetenz zu entwickeln. „Zur Bildungswegwahlkompetenz gehört, Wissen zu generieren – etwa Wissen über die eigenen Interessen, Werte, Ziele und Stärken“, so Gorholt. Aber eben auch Wissen über die verschiedenen Bildungswege und die unterschiedlichen Arbeitswelten. Besonders wertvoll sei das Wissen aus der Praxis: „Unser Motto lautet: Erst probieren, dann entscheiden.“ Auch Entscheidungs- und Selbstorganisationskompetenz oder Eigenverantwortung zählten zu dieser Kompetenz.
Die Fähigkeit, zwischen beiden Bildungssystemen entscheiden zu können, kann auch große Auswirkungen darauf haben, wann junge Fachkräfte dem Markt zur Verfügung stehen. Der Anteil von Azubis mit Hochschulzugangsberechtigung ist laut BIBB Datenreport (2022) von 2010 bis 2020 zwar um 9 Prozentpunkte – von 20,9 (2010) auf 29,2 Prozent (2020) – gestiegen. Doch rund ein Drittel der Studierenden brechen ihr Studium ab, wovon der Großteil anschließend eine Ausbildung startet. Um Einblicke in die Arbeits- und Ausbildungspraxis zu geben, setzt das O ja! auf eine enge Kooperation mit Unternehmen. Neben Betriebsbesichtigungen, Austauschformaten und Projekten direkt in den Betrieben wird vor allem auf Praktika gesetzt. Dort prüfen die Teilnehmenden nicht nur ihre Interessen, sondern finden wohlmöglich auch direkt den Betrieb für ein duales Studium oder eine duale Ausbildung.
Teilnehmende sammeln auch Unternehmenserfahrungen, etwa bei den Berliner Verkehrsbetrieben.
© Claudia Perrot
Win-win für Teilnehmende und Betriebe
„Alle unsere Praktika sind Fachpraktika“, sagt Gorholt. Das heißt, die Teilnehmenden haben offiziell Studierenden-Status und sind während der Praxisphasen über die Hochschule versichert.“ Zur Vermittlung bietet die HTW spezielle „Matchmaking-Events“ an. Das sind Online-Veranstaltungen, bei denen sich Betriebe und Teilnehmende niederschwellig kennenlernen können. Eine Win-win-Situation für beide Seiten, wobei Unternehmen nicht selten Azubis, Dual-Studierende oder Werkstudierende gewinnen.
Gorholt weist noch auf einen weiteren Aspekt hin: „Wir räumen mit Klischees auf, dass es wirklich gute Karrierechancen mit solidem Gehalt nur mit einem Studium gibt und dass der MINT-Bereich etwas dröges Technisch-Mathematisches ist, bei dem es nicht so sehr um Kollaboration und Kreativität geht.“ Gerade für junge Frauen biete O ja! eine Möglichkeit, Zweifel an technischen Fähigkeiten auszuräumen.
Betriebe, die in der Rekrutierung ihrer Azubis oder dual Studierenden andere Wege gehen wollen, können sich gerne beim O ja! als Praxispartner melden.
von Gregor Wendler