Fokus

Ganz schön groß

Wachsen Start-ups in den Mittelstand hinein, werden sie zu Scale-ups oder Grown-ups. Bei denen ist Berlin in Deutschland spitze. Kein Grund, sich darauf auszuruhen.
Gute Nachricht für den Standort Berlin: Im ersten Halbjahr 2024 ist die Zahl der Start- up-Gründungen in Deutschland um 15 Prozent auf 1.384 gestiegen. Die Dynamik im Ökosystem nehme wieder klar zu, teilte der Startup Verband im Juli mit. Nach dem starken Rückgang Mitte 2022 deutet sich nun ein positiver Trend an. Bei den Gründungen liegen die Länder Berlin, Bayern und Nordrhein-Westfalen vorne. Die Hauptstadt, zentraler Hotspot der deutschen Start-up-Szene, glänzt mit einem Plus von 28 Prozent. „Berlin ist nicht nur die Start-up-Hauptstadt Deutschlands, sondern auch das Zuhause der meisten Scale-ups im Land. 29 Prozent der deutschen Start-ups, die in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten in den Mittelstand hineingewachsen sind, wurden in Berlin gegründet und haben hier ihren Hauptsitz“, unterstreicht Sonja Jost, Vizepräsidentin der IHK Berlin. Sie würden wie kaum eine andere Gruppe zum wirtschaftlichen Wachstum der Stadt beitragen. „Wir ­wollen diese Erfolgsgeschichte fortsetzen und auch einer neuen Generation von DeepTech-Gründungen eine Chance geben.“
„Der Begriff Start-up wird heute häufig für alle Gründungen verwendet, weil er hip, urban und cool klingt“, sagt Birgit Felden, die an der Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) den Studiengang Unternehmensgründung und -nachfolge leitet. Diese jungen Unternehmen seien disruptiv, technologieaffin, hochinnovativ, sehr schnell wachsend und mit Venture Capital ausgestattet. Aber nur im sehr seltenen Idealfall gelinge der Aufstieg zum Scale-up oder sogar zum Unicorn wie bei Raisin, N26, Solaris, Delivery Hero, GetYourGuide, Sennder oder Babbel. „Von den hippen Start-ups gehen aber auch viele in die Insolvenz beziehungsweise werden liquidiert oder geben auf.“ Die Masse der Gründungen entfalle auf junge evolutionäre Unternehmen mit inkrementellen Entwicklungen. Sie seien weniger risikoreich als Start-ups. Wie schwierig die Evolution zum Scale-up ist, belegt eine Studie. Nur vier Prozent aller Gründungen schaffen den Aufstieg vom Start- zum Scale-up, heißt es in einer Untersuchung, die unter anderem die Goethe-Universität Frankfurt herausgegeben hat.
Was sind die Erfolgskriterien für den Aufstieg, wie tragen Scale-ups zum Strukturwandel in Deutschland bei, und wie ändert sich im Laufe der Jahre die Unternehmenskultur? Laut Yasmin Olteanu, Professorin für Betriebswirtschaftslehre/Entrepreneurship an der Berliner Hochschule für Technik (BHT), stehen Scale-ups vor großen Herausforderungen. „Sie kommen aus einer sehr agilen, innovativen und flexiblen Welt. Sie müssen dann große Schrauben am Geschäftsmodell drehen, damit es weitergeht hin zu einem Unternehmen mit großer Stabilität und langfristigem Wachstum, um sich am Markt erfolgreich und dauerhaft zu positionieren.“

Mitarbeitende müssen mitgenommen werden

Erste Mitarbeitende, die den Start-up-Spirit verinnerlicht haben und sich mit ihrem Unternehmen stark identifizieren, müssten bei der Transformation mitgenommen werden. Es kämen dann Kollegen hinzu, die oftmals ein anderes Selbstverständnis mitbringen und auch eine andere Gehaltsstruktur kennen als die Beschäftigten der ersten Stunde. „Scale-ups brauchen beim Wachstum einen starken Fokus für Vision, Mission und Unternehmensziele, damit sich die Beschäftigten weiterhin mit dem Unternehmen identifizieren und in der Skalierungsphase Teil der Erfolgsgeschichte bleiben wollen, obwohl so viele neue Mitarbeitende kommen.“ Entscheidend sind zudem die finanziellen Ressourcen. Für eine gesunde und nachhaltige Skalierung seien Investitionen in Technologie und Infrastruktur unerlässlich. „Gelingt es nicht, finanzielle Ressourcen zu erschließen, kann die Transformation scheitern“, so Olteanu.
Die Professorin hebt auch die Bedeutung der reifen Start-ups für den Strukturwandel in Deutschland hervor. Meistens würden Grund- lageninnovationen, die disruptiv sind, weil sie neue Märkte schaffen und Branchen revolutionieren, von Start-ups angestoßen. „Damit leisten sie einen entscheidenden Beitrag zu den Herausforderungen, die wir in Umwelt und Gesellschaft meistern müssen.“ Als Beispiel nennt die Wissenschaftlerin die im Jahr 2017 gegründete Berliner Nuventura GmbH, die eine Methode entwickelt hat, um Mittelspannungsschaltanlagen umweltschonend auf Sauerstoffbasis zu kühlen. Bisher wird mit SF6 das stärkste Treibhausgas verwendet.
„Es ist essenziell, neue erfolgreiche Start-ups und radikale Innovationen zu fördern, die Profitabilität und Unabhängigkeit erreichen können, ohne auf Exits ins Ausland angewiesen zu sein. Nur so kann eine eigene Innovationskultur in Deutschland florieren, die auf europäischen Werten basiert“, ist Evgeni Kouris überzeugt, der mit seiner 2017 gegründeten Initiative New Mittelstand die zwei Welten Mittelstand und Start-ups verknüpfen will, damit kleine und mittelständische Unternehmen für Herausforderungen von Digitalisierung bis zum Fachkräftemangel gerüstet sind. Deutschland sei weltweit bekannt für seinen Mittelstand, Familienunternehmen und Hidden Champions. Diese erfolgreichen Unternehmen gelte es resilient und zukunftsbewusst weiterzuentwickeln. „Es braucht beides: Innovative Familienunternehmen und Mittelständler sowie erfolgreiche und profitable Start-ups mit einer wertegetriebenen Unternehmenskultur.“ Ein aktuelles Beispiel, das diese These unterstützt, ist für ­Kouris die jüngste Top-100-Liste der Innovationschampions der „Wirtschaftswoche“. Dort belegt ein traditionsreiches Unternehmen, die Amazonen-Werke H. Dreyer, mit ihrer 141-jährigen Firmengeschichte den ersten Platz. Platz zwei nimmt das aufstrebende Start-up Deepl ein, das 2017 gegründet wurde.
„Auch aus Kooperationen zwischen Start-ups und klassischen Gründern ebenso wie gewachsenen Mittelständlern könnten Win-win-Situationen entstehen“, ist Birgit Felden von der HWR überzeugt. In einem Projekt will die Wissenschaftlerin Gründer aus Berlin mit bestehenden Unternehmen aus strukturschwachen Regionen Brandenburgs zusammenbringen. Gründer können dort ihre innovativen Ideen realisieren und dabei helfen, die Brandenburger Unternehmen zu transformieren. „Dadurch können die Nachfolge dieser Unternehmen und die bestehenden Arbeitsplätze langfristig gesichert werden.“

Mobilisierung von Risikokapital

Für IHK-Vizepräsidentin Jost steht jedoch fest: „Eine Fortsetzung der Erfolgsgeschichte der Scale- ups schaffen wir nur, wenn wir die Standortbedingungen durchweg attraktiver gestalten: bessere Rahmenbedingungen für Angel-Investments, eine start-up-freundliche Verlustverrechnung, steuerliche Förderung von Forschung und Entwicklung, einen reibungslosen Übergang von Intellectual-Property-Rechten auf Spin-offs, den Ausbau von Labor- und wissenschaftlicher Infrastruktur – und nicht zuletzt die Mobilisierung privaten Risikokapitals. Denn ohne diese Unterstützung können wir den Kapitalbedarf von Scale-ups, besonders im DeepTech-Bereich, nicht decken.“
Aus Sicht von Yasmin Olteanu ist das Berliner Ökosystem zwar sehr fruchtbar für das Netzwerken und für den Aufbau strategischer Partnerschaften. Es hapere aber noch an internationaler Vernetzung. „Wir müssen die jungen Unternehmen besser mit internationalen Akteuren vernetzen, das verbessert auch die Skalierungsoptionen.“ Dafür bräuchte es Formate, um den Zugang zu den Ökosystemen vor Ort zu ermöglichen.
Auf Wachstum gepolt: Scale-ups
Der Begriff Scale-up ist angelehnt an das englische „to scale up“ – wachsen. Er bezeichnet laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) wachstumsstarke junge Unternehmen mit einer durchschnittlichen jährlichen Zunahme der Beschäftigtenzahl oder des Umsatzes von mehr als 20 Prozent über einen Zeitraum von drei Jahren und mit mindestens zehn Mitarbeitenden zu Beginn der Beobachtung.

von Eli Hamacher