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Lebendiger Kiez in spe

Wer in den letzten Wochen die Berliner Tagespresse verfolgt hat, könnte den Eindruck gewinnen, die Frage der 215 mietpreisgebundenen Wohnungen in der Europacity überschattet das Entwicklungsgebiet nördlich des Hauptbahnhofs. Dabei gerät aus dem Blick, dass innerhalb von 15 Jahren auf einer Brachfläche ein neues Stadtquartier entstanden ist, mit Eigentums- und Mietwohnungen beiderseits der Heidestraße und mit zahlreichen Unternehmensansiedlungen (SAP, Wall, Cariad).

Grüne Höfe hinter den Fassaden

Zunächst ist festzuhalten, dass der Vermieter kein verschachtelter und anonymer Konzern ist. Die Montibus Asset Management GmbH mit Sitz in Berlin ist ein junges Unternehmen mit dem Geschäftsführer Olaf Claessen an der Spitze. Die Firma kümmert sich um die Vermarktung und Vermietung von 170.000 Quadratmetern Büro-, 20.000 Quadratmetern Gewerbe- und 95.000 Quadratmetern Wohnfläche im Auftrag mehrerer Eigentümer. Obwohl der historische Lehrter Bahnhof bereits 2006 als Hauptbahnhof Berlins neu eröffnete, war das Areal nördlich davon noch jahrelang Baustelle. Der Master-plan wurde 2009 noch vom rot-roten Senat unter Klaus Wowereit genehmigt, seitdem geht es mit der Neugestaltung schrittweise voran.
Im südlichen Bereich wurden das Hochhaus für TotalEnergies bereits 2012 und das für 50Hertz im Jahr 2016 den Nutzern übergeben, das symbolische Ende im Norden wird der zukünftige DKB-Campus bei seiner geplanten Fertigstellung Ende 2025 sein. Nur noch vereinzelte Grundstücke, unter anderem die ehemalige Total-Tankstelle, harren der Entwicklung. Auf dem von Montibus gemanagten Flächen werden die verbliebenen Leerstände im gewerblichen Bereich gerade vermietet.
„Das Quartier hat dank seines Nutzungs- mixes inklusive Plätze, Gastronomie, Einzelhandel und Wohnungen so gut wie alles, was ein Berliner Kiez braucht“, erläutert ­Geschäftsführer Claessen. Die Eigentümer wollen ihre Objekte langfristig zu einem lebendigen Quartier entwickeln, sagt er. Die Kritiker der Bebauung würden an dieser Stelle einwenden, dass die Europacity eher ein Beispiel für langweilige „Investorenarchitektur“, unbezahlbar für normale Berlinerinnen und Berliner sei. Wer hinter die etwas eintönigen Fassaden der Heidestraße blickt, entdeckt begrünte Innenhöfe und kleine Stadtplätze, auf denen unter anderem ein Wochenmarkt geplant ist.

Ergebnis ist eine „reife Leistung“

Wäre mehr drin gewesen? Zur Ehrlichkeit gehört dazu, dass hier kein gewachsenes Viertel umgekrempelt wurde, sondern ein neues Quartier entstand. Dafür, dass die Grundstückefrühzeitig an private Bauherren gingen und die öffentliche Hand erst spät mithilfe von Wettbewerbsverfahren und Gestaltungsgrundsätzen aktiv werden konnte, sei das Ergebnis eine „reife Leistung“, ließ sich Regula Lüscher, Senatsbaudirektorin von 2007 bis Ende 2021, seinerzeit zitieren. Wer es historisch mag, wird am Rand der Europacity fündig – der Kornversuchsspeicher am Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal vom Ende des 19. Jahrhunderts wurde bis Mitte 2023 denkmalgerecht saniert und sucht nach Mieterinnen und Mietern.
von Dr. Mateusz Hartwich