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Der Zinseszinseffekt der KI wird nicht verstanden

Milos Rusic und Malte Pietsch haben das Start-up Deepset gegründet. Die Ex-Studenten der TU München haben sich bewusst für Berlin als Standort entschieden.
Deepset gilt unter den Berliner Start-ups, die sich mit künstlicher Intelligenz beschäftigen, als eines der vielversprechendsten. Im vergangenen Jahr haben sich Investoren, zu denen auch der Investment-Arm der Google-Mutter Alphabet gehört, mit 30 Mio. Dollar an dem Experten für Large Language Models beteiligt. Über die Dynamik, die die Technologie seit einigen Monaten entfacht, staunen die Gründer selbst.
Berliner Wirtschaft: Sie haben sich während Ihres Studiums an der TU München kennengelernt. Warum haben Sie nicht dort gegründet, ­sondern in Berlin?
Milos Rusic: Die Frage haben wir tatsächlich intensiv diskutiert. Malte hat Ende 2017, zum Zeitpunkt der Gründung von Deepset, schon in Berlin gelebt, ich in München. Entscheidend war für uns, dass der Markt für Talente hier in Berlin einfach überzeugender ist. Vor allem sind hier leichter internationale Talente zu bekommen. Berlin ist gerade für englischsprachige Leute attraktiver, weil die Stadt einfach internationaler ist.
Malte Pietsch: Zudem gab es in Berlin schon eine kleine KI-Szene. Mit künstlicher Intelligenz hatten sich damals noch nicht so viele Start-ups beschäftigt. Als technologieorientiertes Unternehmen war es uns wichtig, dass wir an einem Standort sind, an dem wir uns mit Firmen austauschen können, die ähnliche Sachen machen wie wir.
Welche Argumente haben noch für Berlin, welche für München gesprochen?
Milos Rusic: Also, ein gewichtiges Argument für München ist die TUM, also die Technische Universität München. Das ist eine starke Organisation, in der Technologien sehr gut gefördert werden. Zudem ist München als Industriestandort sehr viel stärker als Berlin. Insofern gibt es dort auch mehr industrielle Forschung und industrielle Anwendungen. So ist Siemens sehr früh ein Kunde von uns geworden.
Malte Pietsch: In Berlin gab es hingegen eine starke KI-Open-Source-Community. Die ist gut für uns, weil wir überzeugt davon sind, dass es in unserem Markt Technologiestandards geben wird und dabei niemand an Open Source vorbeikommt. Open Source weckt Vertrauen, schafft Unabhängigkeit und spricht die Masse der Entwickler an. Es war auch auf anderen Technologiefeldern schon zu sehen, dass sich am Ende Open Source durchsetzt.
Ihre Standortdiskussion fand vor mehr als sechs Jahren statt. Hat sich seitdem etwas verändert?
Malte Pietsch: Seitdem hat sich Paris enorm weiterentwickelt. Wir haben uns damals auch London angesehen, aber an Paris gar nicht gedacht. Ich glaube, Paris hat sich so stark entwickelt, weil die Regierung die Szene sehr gefördert hat und sehr viel investiert. Außerdem ist in der San Francisco Bay Area bei KI viel mehr passiert, als es erwartet worden war. Der Standort ist so relevant, dass wir Leute vor Ort haben müssen und mittlerweile auch haben. Da spielt sich gerade wahnsinnig viel ab.
Und Berlin?
Malte Pietsch: Ich sehe Berlin gerade auf dem Scheideweg. Es gibt nach wie vor hier ein großes Ökosystem, viele Firmen, die sich mit KI beschäftigen, und den AI Campus in Gesundbrunnen. Es passiert schon einiges, aber nicht in der gleichen Geschwindigkeit wie in San Francisco oder Paris.
Milos Rusic: Ja, definitiv, Berlin ist ein guter Standort für KI. Aber er könnte sich auch noch besser entwickeln. Man merkt, dass das Ökosystem noch sehr stark aus den Zehnerjahren und von den E-Commerce-Start-up-Gründern geprägt ist. Diese Gründer sind heute als Investoren engagiert und haben großen Einfluss auf die Risikokapital-Szene. Das hat auch sehr gut funktioniert. Aber KI ist etwas komplett Neues. Die Geschäftsmodelle haben eine ganz andere Dynamik, und der Markt ist viel globaler.
Was passiert in Paris oder San Francisco, was in Berlin nicht passiert? Oder was muss Berlin machen, um bei KI ähnlich erfolgreich zu werden wie im E-Commerce und in der Fintech-Szene?
Milos Rusic: Ich sehe kein Berliner Problem. Ich glaube, dass sich jede neue Technologieszene mit hoher Wahrscheinlichkeit innerhalb Deutschlands in Berlin clustern wird. Berlin ist in Deutschland die einzige echte internationale Weltstadt, in die Leute aus aller Welt kommen. Berlin wird immer den Vorteil haben, dass das Talent hierherkommt. Es gibt eher ein deutsches Problem.
Welches ist das?
Milos Rusic: Auch für den KI-Bereich gilt: Start-ups leben davon, dass ihre Technologien genutzt werden, nur dann können sie sich weiterentwickeln. In den USA ist der Wille, neue Technologien auszuprobieren und anzuwenden, ausgeprägter. So entstehen dort neue, führende Industrien. In Deutschland sind Organisationen generell zurückhaltender und weniger risikofreudig beim Einsatz neuer Technologien. Wenn wir wirklich einen Vorsprung sicherstellen wollen, brauchen wir mehr Nachfrage – gerade auch aus dem öffentlichen Sektor.
Malte Pietsch: Wir sind in Deutschland wieder einmal sehr stark in der Forschung. Aber wir setzen die Ergebnisse eben nicht ein. Es gibt wirkliche viele Forschungsprogramme, in die viel Geld fließt. Wir haben uns eine Menge davon angesehen. Aber diese eigentlich so wichtige Schnittstelle zwischen Forschung und Industrie ist so bürokratisch, dass wir sagen: Es lohnt sich nicht.
Warum nicht?
Malte Pietsch: Wir müssten zu viel Zeit in den ganzen Papierkram investieren. Die Zeit können wir besser nutzen, indem wir unsere Technologie weiterentwickeln. In Ländern wie den USA oder gerade auch Frankreich wird sehr viel unkomplizierter gefördert, wie wir es mitbekommen haben.
Wird die Bedeutung von KI in Deutschland falsch eingeschätzt?
Milos Rusic: Nein, dass KI relevant ist, zweifelt niemand mehr an. Unser Eindruck ist auch, dass die Politik sowohl in Deutschland als auch in Europa versteht, dass wir zusammenarbeiten müssen, um eigene Champions hochzubringen. Aber man ist unsicher, mit welchen Instrumenten das gelingen kann. Meiner Ansicht nach kann die öffentliche Vergabe ein sehr effektives Werkzeug sein. So wird Nachfrage erzeugt. Die öffentliche Verwaltung würde mit jungen Firmen vertragliche Beziehungen eingehen, die auch wieder gekündigt werden können, wenn nichts dabei herumkommt.
Malte Pietsch: Aber ich bin mir nicht sicher, inwiefern ein Verständnis dafür besteht, wie schnell sich diese Technologie jetzt entwickelt und wie schnell sich damit die Welt verändert. Ich muss ehrlicherweise sagen, dass es auch für uns selbst oft erstaunlich ist, wie es gerade vorangeht. Wir machen Deepset seit sechs Jahren, aber was seit Anfang 2023 in der KI passiert, ist Wahnsinn, und es geht in diesem Tempo weiter. Diese Dynamik ist von außen wahrscheinlich schwer wahrzunehmen.
Milos Rusic: Ich glaube, der Zinseszinseffekt der KI wird nicht verstanden. Am Anfang wächst alles sehr langsam, und das suggeriert, dass man viel Zeit hat. Aber ganz plötzlich wird aus dem seichten Wachstum ein exponentielles Wachstum. Diesen Zeitpunkt darf man nicht vorbeiziehen lassen, denn sonst kommt man nicht mehr hinterher. Vielleicht besteht in Deutschland dieses Risiko, weil wir ein bisschen zu geduldig sind.
Vielleicht ist das gerade ein Problem für den Mittelstand. Sie haben für Ihr Produkt „Haystack“, das aus großen Datenmengen zum Beispiel Dokumente und spezifische Inhalte zusammenstellen oder Chatbots einrichten kann, große Konzerne als Kunden gewonnen, wie Airbus. Kommen Ihre Lösungen nur für große Unternehmen infrage?
Malte Pietsch: Auch Mittelständler können KI nutzen. Wir haben auch kleinere Kunden, die nur ein sehr kleines IT-Team haben.
Was haben Sie in Berlin noch vor?
Malte Pietsch: Eines der nächsten Ziele ist der Umzug. Wir werden im Herbst umziehen und gestalten dafür bereits neue Räume in Mitte. Das wird unser Headquarter sein. Dort können unsere Leute, die in Berlin leben, sich treffen und arbeiten, und wir wollen auch, dass die, die an anderen Standorten sitzen, hin und wieder vorbeikommen. Außerdem wollen wir auch aktiv dazu beitragen, dass die KI-Community hier am Standort stärker zusammenwächst.
Milos Rusic: Deepset soll nicht rein remote funktionieren. Wir wollen hybrid sein. Es wird Standorte geben, an denen sich die Leute treffen. Die natürliche persönliche Interaktion ist von Zeit zu Zeit sehr wichtig. Berlin soll aber nicht nur Headquarter sein, sondern immer unser größter Standort bleiben.
von Michael Gneuss