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Fokussiert euch!
Gründer und Business Angel Christoph Räthke appelliert an Start-ups, Stakeholder und das Land Berlin, sich angesichts neuer Herausforderungen auf die Stärken des Ökosystems zu konzentrieren.
Mit jährlicher Regelmäßigkeit fragt sich ganz Berlin bange: Sind wir denn noch Start-up-Hauptstadt? Oder hat uns München nun doch überholt? Ganz Berlin? Nein, nicht ganz Berlin: Außergerechnet die Start-up-Szene und Ökosystemtreiber interessiert diese Frage wahrscheinlich am wenigsten. Sie innovieren, gründen, pitchen und investieren nicht, um Berlin einen netten Titel zu verschaffen. Sie wollen Ideen Gestalt geben, Märkte schaffen oder umwälzen, Erfolgsgeschichten schreiben – ihre Motivationen sind sehr unterschiedlich. Das offizielle Berlin, Politik, Verwaltung, Kammern und Verbände übernehmen hier nicht die Rolle des Protagonisten. Aber eine wichtige Nebenrolle als Ermöglicher, Vernetzer, Unterstützer und natürlich auch finanzieller Förderer.
Vernetzen, informieren, zusammenbringen
Mit der im November 2022 durch den Senat verabschiedeten Startup-Agenda erhielt diese Nebenrolle ein schärferes Profil. Die mit der Erarbeitung betraute Startup Unit, in der sich wichtige Berliner Stakeholder, unter ihnen die IHK, zusammengeschlossen haben, definierte fünf Felder, auf die das Land besonderen Wert legen sollte, um Berlin für die nächste Gründergeneration fit zu machen: Impact-Start-ups, Ermöglichung, Talente, Diversität und Kooperation. An jedem dieser Themen arbeiten bereits zahlreiche Netzwerke, Förderer, Institutionen. Doch meist in dem für Berlin typischen – und durchaus sympathischen – Wildwuchs und in solcher Zahl, dass Synergien verloren gehen. Akteure vernetzen, informieren und zusammenbringen, sind daher die Hauptaufgaben, um der Agenda Leben einzuhauchen.
Dieser Herausforderung stellt sich seit Anfang 2023 zu jedem der fünf Schwerpunkte eine aus Mitgliedern des Ökosystems gebildete Arbeitsgruppe. Das Geschäft des Vernetzens, Informierens und Zusammenbringens ist bekanntermaßen wenig glamourös und dafür zäh. Doch zeigt es Erfolge: Impact-Innovation-Challenges wurden auf den Weg gebracht, Reallaborprogramme beraten, das Gründer-Visum erfolgreich vorangetrieben, Gründerinnen und Gründer mit der Landesregierung vernetzt, Kooperationsnetzwerke vernetzt und sichtbar gemacht.
„Wir waren völlig ahnungslos, als wir Ende der Neunziger unser erstes Start-up aufbauten“, erzählt Christoph Räthke, einer der profiliertesten Kenner und Akteure der Berliner Szene. 1999 gründeten er und ein paar Freunde und waren damit Teil der ersten Start-up-Welle in Deutschland. Viele der Pioniergründerinnen und -gründer mögen ahnungslos gewesen sein. Aber sie waren begeisterte Entrepreneure. Start-ups waren eine völlig neue Erscheinung im Land der immer etwas braven Deutschland AG. „Wir wussten, wir machen etwas völlig Neues. Es war einfach ein geiles Gefühl.“ Start-ups waren Avantgarde, sie erkundeten rastlos die Möglichkeiten des Internets, das damals wirkliches Neuland war. Etwas zu neu, wie sich schließlich zeigte.
„Unser Businessplan stand buchstäblich an dem Tag, als der Neue Markt zusammenbrach“, erinnert sich Räthke. „Viele Geschäftsmodelle zielten auf einen Online-Massenmarkt, den es noch nicht gab. Es gab noch zu wenige User. Und Internet-Technologie war schlicht teuer“, erzählt Räthke. Ganz anders heute: Web-Tools und -services ermöglichen Gründungen mit weit geringerem Kapitaleinsatz und damit den Einstieg von Investoren, die vor 20 Jahren Start-ups nicht hätten finanzieren können. Die Investorenlandschaft ist erwachsener, vielfältiger, das Start-up-System stabiler, breiter gelagert. Und Internetnutzerinnen und -nutzer sind nahezu alle.
Start-up-Welt ist offener geworden
Den Beginn der bis heute laufenden Berliner Start-up-Ökonomie setzt Räthke um das Jahr 2008 an: „Damals kehrten viele Gründer, die Anfang der 2000er-Jahre gescheitert waren, zurück – erfahrener, besser vernetzt und finanziert. Es gab ausgereiftere Technologie. Und das Internet war endlich ein Massenphänomen.“ Die 2010er-Jahre wurden zum Jahrzehnt der B2C-Start-ups: Markengetriebene Services prägten die Landschaft. Es war eine Ära des selbst organisierten, niedrigschwelligen Austauschs und Netzwerkens – die Räthke mit seinem Accelerator und seinen Veranstaltungen maßgeblich mitprägte. Gegen Ende des Jahrzehnts jedoch verschob sich der Schwerpunkt vieler Gründungen hin zu B2B. „B2C-Märkte waren erschlossen“, so Räthke, „und die neuen B2B-Gründungen suchten weniger stark die Öffentlichkeit.“
Damit habe sich auch der Charakter des Ökosystems verändert. Austauschformate und Eigenorganisation gebe es weniger. Gründungen seien zudem kein Geheimwissen mehr, Gründerinnen und Gründer wussten stattdessen, worauf sie sich einlassen und einstellen müssen. „Angel-Szene und öffentliche Förderung waren früher kaum entwickelt. Heute ist Business-Wissen erlenbarer, erfragbarer und die Start-up-Welt damit auch offener geworden.“
Berlin muss die Bedingungen schaffen
Eine emanzipatorische Erfolgsgeschichte also. Aber auch eine, die Berlin als Standort exklusiven Start-up-Wissens ein wenig entwertet. „Das Instru-mentarium ist inzwischen fast überall vorhanden, staatliche Förderung gibt es – das Thema ist in der Breite angekommen. Ein Start-up ist nichts Exotisches mehr.“ Das Berliner Selbstverständnis müsse sich daher verändern: „Berlin kann nicht mehr alles für alle machen. Wir müssen uns fragen: Was kann man nur hier machen?“
Was das sein könne? „Zum Beispiel ein großes Angebot funktionierender Testbeds in jedem Bereich der Stadt“, meint Räthke. „50 Schulen, um niedrigschwellig Education-Tech zu testen. Das Gleiche für Taxis, Restaurants, jede Kundengruppe. Wir haben mehr KMU als jede andere deutsche Stadt – und machen aus dieser Diversität bisher gar nichts.“ Desgleichen die Verwaltung. Wenn sie den Mut hätte, sich zu einem Testbed, also einem wissenschaftlichen Experimentierfeld, für GovTech zu entwickeln, wäre das eine Sensation, so Räthke. „Senat und Bezirke müssten den Mut haben, sich das Ziel zu setzen: Jeder, der in GovTech etwas machen will, muss das bei uns machen wollen. Wo sonst als in der Hauptstadt! Und wir schaffen dafür die Bedingungen.“ Aber an der Courage, Ziele zu setzen und entschlossen darauf hinzuarbeiten, mangele es.
Wohin auch immer sich das Berliner Ökosystem nun entwickelt, einen Rat hat Räthke für alle Beteiligten: „Es ist schon schwer genug, eine Sache perfekt zu machen. Und nahezu unmöglich, das bei drei oder vier Sachen zu schaffen. Also: Fokussiert euch!“
von Christian Nestler