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Ohne Flächen keine Wirtschaft

In Berlin gibt es immer weniger Gewerbe-Areale. In einer gemeinsamen Erklärung zeigen 22 Akteure, wie das Angebot wieder erhöht werden kann.
Die Krisenmeldungen in der Bau- und Immobilienbranche reißen nicht ab. Die Zinserhöhungen verteuern neue wie laufende Projekte, die Preise für Material und Rohstoffe steigen markant, potenzielle Käufer halten sich zurück, auch der Fachkräftemangel macht der Branche sehr zu schaffen, und vor dem Hintergrund der Klimakrise werden die Anforderungen immer komplexer. Die Frage, welche Gebäude wo, in welcher Größenordnung und zu welchen Konditionen auf dem Markt gebraucht werden, lässt sich nur noch schwer beantworten.
Auf eines können sich Politiker und Wirtschaftsvertreter im Grundsatz einigen: Wir brauchen mehr. Mehr neue Wohnungen, mehr Gewerbeflächen, mehr Quartiersentwicklung und mehr Erschließung für mehr Mobilitätsformen. Außerdem mehr Klimaschutz durch weniger Emissionen. Gleichzeitig wissen alle, dass Berlin weniger Flächen versiegeln und weniger Energie verbrauchen darf. Nicht zufällig drehen sich viele Diskussionen um die Aufstockung bestehender Gebäude oder die Umnutzung von Objekten.
Nicht zufällig verkündete daher die GSG Berlin bei der Präsentation ihrer Studie „Gewerbe-Pulsschlag“ Mitte September, dass sich der Fokus zukünftig auf den Bestand richtet. Nicht nur historische Gewerbegebiete und -gebäude müssen den energetischen und technischen Anforderungen angepasst werden, sondern auch solche, die im Bauboom der frühen 1990er-Jahre entstanden sind. Dabei haben sich auch die Ansprüche der Nutzer verändert. Das ist eine große Herausforderung für Projekt- und Bestandsentwickler: Wegen des anhaltenden Trends zum Homeoffice müssen weniger Quadratmeter Bürofläche pro Mitarbeiter geplant werden, dafür etwa mehr Gemeinschaftsflächen. Das in einem historischen Bestandsgebäude umzusetzen, ist nicht einfach. Und dabei sind wir noch gar nicht bei „Blue Collar“-Objekten, also klassischen Gewerbegebieten mit Produktion und Logistik, die geschätzt zwei Drittel aller Objekte darstellen.
Die IHK Berlin bemängelt seit Jahren, dass in der Innenstadt solche Gewerbeflächen und -räume verschwinden. Im Grunde finden alle kleine Handwerks- oder Produktionsbetriebe in der Nachbarschaft gut. Doch diese arbeiten oft schon frühmorgens, machen Lärm oder stinken, und da hört die Toleranz der Anwohner auf. Die traditionellen Gewerbehöfe werden immer häufiger zu Wohnzwecken umgenutzt, ausgewiesene Gewerbeflächen für Wohnungsneubau aufgegeben. Allein 170 Hektar Fläche hat die Wirtschaft in den letzten acht Jahren dadurch verloren. Für viele Unternehmen im und auch schon außerhalb des S-Bahn-Rings ist oft die einzige Lösung der Umzug ins Brandenburger Umland. Das verursacht jedoch zusätzliche Verkehre in beide Richtungen – für die Mitarbeitenden und die Zulieferer. Solange diese nicht komplett emissionsfrei erfolgen können, verschlechtert die Verlagerung der Produktion und Logistik außerhalb der Stadt also die CO2-Bilanz.
Einer gemeinsamen Erklärung für mehr Gewerbeflächen schlossen sich 22 Verbände und Initiativen an. „Will Berlin seine Attraktivität als Wirtschaftsstandort nicht verlieren, braucht es ein Zusammenspiel verschiedener Maßnahmen, die das Gewerbeflächenangebot erhöhen, geeignete Rahmenbedingungen für bezahlbare Gewerbemieten schaffen sowie eine bedarfsgerechte Förderlogik implementieren“, schreiben die ­Initiatoren. Kurzfristig geht es darum, den Rückgang des Flächenangebots zu stoppen und etwa durch gemischte Nutzungen innovative Maßnahmen zu ergreifen. Die häufig diskutierte, aber in der Praxis noch ausbaufähige Über- bebauung von Supermärkten ist ein Beispiel, wie sich Flächenpotenziale generieren lassen. Auch die Verwaltung ist am Zuge – die Sicherung und Erschließung von Gewerbeflächen soll auf Ebene der Senatsverwaltung und der Bezirksämter stärkere Priorität bekommen.
Vielleicht ist die aktuelle Phase auch eine gute Denkpause für die Branche. Nicht nur das „Mehr“, sondern auch das „Wie“ wird eine immer größere Rolle spielen. Das Problembewusstsein scheint jedenfalls vorhanden – bei den Unternehmen und ihren Interessenvertretern.
Von Dr. Mateusz Hartwich