Fokus
Kleine Riesen – Hidden Champions
Sie sind mehr oder weniger heimliche Weltmarktführer mit hohem Innovationspotenzial: Warum sich Berlins Hidden Champions keineswegs verstecken müssen.
© GettyImages-1456554410
Sie gleichen die windbedingten Schwankungen von Wolkenkratzern mit schwergewichtigen Pendeltilgern aus. Sorgen mit Federelementen für Schallschutz in Konzerthäusern. Reduzieren mit Dämpfersystemen die Schwingungen auf Brücken oder Schiffen, in Stadien oder Kliniken. Und senken die Vibrationen von riesigen Turbinen oder Schmiedehämmern sowie in Gleisbetten von Metro-Linien durch elastische Lagerung: Die Expertise der Fachleute der in Berlin ansässigen Unternehmensgruppe Gerb Schwingungsisolierungen GmbH & Co. KG ist weltweit gefragt. Mit insgesamt mehr als 600 Beschäftigten und Tochtergesellschaften, Büros und Fertigungsbetrieben in vielen Ländern gehört die Gerb-Gruppe zu den Weltmarktführern in ihrem Segment.
Gerb ist ein sogenannter Hidden Champion. Nach der Definition des Wirtschaftswissenschaftlers Prof. Dr. Hermann Simon, der den Begriff Ende der 1980er Jahre erfand, sind Hidden Champions mittelständische Unternehmen, die jeweils zu den drei wichtigsten Firmen in ihrer Nische auf dem Weltmarkt zählen oder die Nummer eins auf ihrem Kontinent sind, weniger als fünf Mrd. Euro Jahresumsatz haben und in der Öffentlichkeit kaum bekannt sind. „Weltweit habe ich aktuell knapp 4.000 Hidden Champions identifiziert“, sagt Simon, „die meisten davon – rund 1.600 – haben ihren Sitz in Deutschland, größtenteils im ländlichen Raum.“ Baden-Württemberg sei, auf die Einwohnerzahl gerechnet, mit gut 360 Hidden Champions in Deutschland führend, während Berlin mit mindestens 36 im Mittelfeld liege.
„Das erklärt sich wesentlich aus der Branchenstruktur der Berliner Wirtschaft“, so Prof. Dr. Martin Gornig vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. „Mit seinem hohen Dienstleistungsanteil kann Berlin weniger punkten – bundesweit kommen gut 80 Prozent der Hidden Champions aus dem verarbeitenden Gewerbe, allein ein Viertel davon aus dem Maschinenbau.“ International erfolgreiche Berliner Mittelständler mit nur geringer Bekanntheit sind zum Beispiel Medizintechnik-Unternehmen wie W.O.M. World of Medicine GmbH mit Schwerpunkt auf Geräten und Zubehör für minimal-invasive Chirurgie, der Herzschrittmacher- und Stents-Produzent Biotronik SE & Co. KG oder die auf Nuklearmedizin spezialisierte Eckert & Ziegler Strahlen- und Medizintechnik AG .
Den lokalen Hidden Champions werden auch so unterschiedliche Firmen zugerechnet wie die Kryolan GmbH, die professionelles Make-up für die Unterhaltungsindustrie herstellt, der Sensoren- und Sensorsysteme-Produzent First Sensor AG, der Kochboxen-Anbieter Hello Fresh, die Georg Neumann GmbH, deren High-End-Mikrophone in der inter- nationalen Fachwelt hochgeschätzt sind, die Spielgeräte-Firma Berliner Seilfabrik GmbH & Co. oder das Luft- und Raumfahrt-Unternehmen Astro- und Feinwerktechnik Adlershof GmbH.
IHK-Präsident Sebastian Stietzel sieht erhebliches innovatives und internationales Potenzial bei den Hidden Champions der Hauptstadt. Häufig werde das aus dem Ausland eher wahrgenommen als in Berlin
© Amin Akhtar – IHK Berlin
Dass solche Vorzeigeunternehmen in der Region kaum bekannt sind, bedauert IHK-Präsident Sebastian Stietzel:
„Berlin gilt im Ausland längst als moderne und innovative Weltmetropole – bei den Berlinerinnen und Berlinern existieren diese Wahrnehmung und der damit verbundene Anspruch an sich selbst jedoch leider oft noch nicht.“ Das Potenzial für internationale Strahlkraft zeigten die Hidden Champions jedoch eindrucksvoll. „Deshalb sollten wir“, empfiehlt Stietzel, „diese und die vielen anderen sichtbar machen sowie die Möglichkeiten unserer exzellenten Wissenschaftslandschaft und der kreativen Gründerszene weiter ausschöpfen – Berlin muss sich nicht und sollte sich auch nicht verstecken.“
Hidden Champions zeichnen sich nicht nur durch hohe Exportquoten aus, sondern vor allem durch eine hohe Innovationskraft, eine engagierte und hochwertige Ausbildung ihres Nachwuchses und eine langfristige Strategie. „Hidden Champions geben für Forschung und Entwicklung doppelt so viel aus wie der Durchschnitt der Industrie, nämlich sechs Prozent vom Umsatz statt drei Prozent“, sagt Hermann Simon. „Was noch wichtiger ist: Sie haben pro Mitarbeiter fünfmal so viele Patente wie Großunternehmen.“ Bei Hidden Champions seien neun Prozent der Mitarbeiter Auszubildende, beim Durchschnitt der deutschen Wirtschaft seien es sechs Prozent. „Und in den vergangenen zehn Jahren haben die Hidden Champions den Anteil von Mitarbeitern mit Hochschulabschluss von zehn Prozent auf 20 Prozent verdoppelt – was heißt, dass sie eine hoch qualifizierte Belegschaft haben.“ Im Schnitt stünden Hidden-Champion-Chefs zudem 21 Jahre an der Spitze ihrer Unternehmen, bei Großunternehmen seien es lediglich sechs Jahre.
Von Hidden zu Open Champions
Tobias Rappers ist überzeugt, dass es heute keine Hidden Champions, sondern Open Champions braucht, „also vernetzte, kommunizierende, lernende Organisationen“. Rappers ist Geschäftsführer der Maschinenraum GmbH, einer unabhängigen Plattform vom Mittelstand für den Mittelstand. „Im Maschinenraum vernetzen wir aktuell rund 65 deutsche Mittelstands- und Familienunternehmen miteinander.“ Im Fokus stehe dabei der branchenübergreifende Austausch, in dem Erfahrungen und Wissen geteilt werden.“ Der „Hinterhof der Hidden Champions“, von dem Rappers spricht, befindet sich in einem aufwendig sanierten Industriegebäude in Prenzlauer Berg, dessen Event- und Coworking-Fläche von 4.500 Quadratmetern die Mitgliedsunternehmen, darunter die Dussmann Stiftung der Berliner Dussmann Group, nutzen können.
Den Multidienstleister Dussmann Group zählt auch Dr. Bianca Schmitz zu den Hidden Champions der Stadt. Schmitz, Gründungsdirektorin des Hidden Champions Institute (HCI) an der European School of Management and Technology, definiert den Begriff nicht ganz so streng wie Hermann Simon, der dem Advisory Board des HCI angehört – für sie können Hidden Champions zu mehreren kontinentalen Marktführern gehören, beispielsweise Dussmann oder Onlinedienstleister wie Zalando, Delivery Hero, die Digitalbank N26 oder WebID, Pionier der Online-Identifizierung. Deren Branche wird im HCI als „Sunrise Industry“ bezeichnet.
„Unsere Mission ist es, Unternehmerinnen und Unternehmer sowie Führungskräfte zu unterstützen, indem wir Wissen für und über Hidden Champions generieren und verbreiten“, sagt Schmitz. Vermittelt werde zudem praktische Expertise für und über Hidden Champions – „und wir bieten eine unabhängige Plattform für Hidden Champions, um voneinander zu lernen und ein zuverlässiges Netzwerk aufzubauen“. HCI-Direktorin Schmitz geht fest davon aus, „dass sich neu entstehende Hidden Champions vor allem auch in Berlin entwickeln werden – insbesondere in der Sunrise Industry“.
Auf diesem Weg dürfte zum Beispiel das Berliner Telematik-Unternehmen Vimcar sein, das Flottenmanagement-Softwarelösungen für Fuhrparks kleiner und mittlerer Unternehmen anbietet. Erst kürzlich übernahm US-Investor Battery Ventures die Mehrheit an Vimcar und der Züricher Avrios International AG, um die Fusion beider Unternehmen zu ermöglichen. „Vimcar ist marktführend in Deutschland mit dem digitalen Fahrtenbuch – und gemeinsam mit Avrios steht der Weg zum europäischen Marktführer in Sachen exzellente Fuhrpark-Lösungen und -Services für Unternehmen aller Größen offen“, sagt Francine Gervazio, Geschäftsführerin des Firmenzusammenschlusses mit künftigem Hauptsitz in Berlin. Vimcar und Avrios mit ihren sich ergänzenden Softwarelösungen betreuen in diesem Wachstumsmarkt bereits Zehntausende europäische Kunden mit mehr als 250.000 Fahrzeugen.
Von Almut Kaspar