Fokus | Interview

„Der Handel braucht attraktivere Zentren“

Nicole Srock.Stanley berät Einzelhändler auch im Wettbewerb gegen den E-Commerce. Ihr Rat: Die Kunden müssen mehr zum Verweilen in den Stadtzentren eingeladen werden.
Als Mitgründerin und Co-Geschäftsfüh­rer­in der Agenturgruppe Dan Pearlman ist Nicole Srock.Stanley mit Marken- und Unternehmensstrategie beschäftigt. Unter anderem bewegt sie die Frage, wie die Zukunft des stationären Einzelhandels aussieht und wie sich die Branche mit den Mitteln der modernen Freizeitindus-trie revolutionieren lässt. In jedem Fall, so meint sie, müssen sich auch städtische Flächen verändern.

Erst die Corona-Krise, jetzt die inflationsbedingte Konsumzurückhaltung: Machen Sie sich Sorgen um den stationären Einzelhandel in Berlin?

Nicole Srock.Stanley: Diese Sorgen gibt es nicht erst seit Corona. Seit fast 15 Jahren spricht man vom Retail-Sterben. Zuletzt hat sich dieser Prozess beschleunigt. Aber wir beobachten auch, dass Quartiere, die gut funktionierten, jetzt auch noch gut funktionieren. Wenn mal ein Händler oder eine Händlerin aufgibt, dann kommt sofort ein nächster, weil die Lagen eine hohe Qualität haben und sehr beliebt sind. An den Orten, die schon vorher dysfunktional waren, droht jetzt aber jegliche Qualität verloren zu gehen. Es ist schwer, jemand zu finden, der dort ein leeres Ladengeschäft übernimmt.

Was verstehen Sie in dieser Hinsicht unter dysfunktional?

Die Währung, in der sich eine Lage bezahlt macht, ist immer die Belebung. Dysfunktional ist ein Viertel, wenn die Leute keinen Anreiz mehr zum Kommen und Verweilen haben, weil zum Beispiel traditionelle Geschäfte wie der Metzger oder der Blumenladen nicht mehr da sind. Wenn auch sonst keine Retail-Konzepte nachrücken, die Menschen anziehen, wenn es kein Grün gibt, keine attraktiven Stadtmöbel und wenn das Auto das Viertel dominiert – dann ist ein Quartier dysfunktional. Und dann droht dem Einzelhandel eine Abwärtsspirale.

Wie attraktiv finden Sie heute die Berliner Stadtzentren?

Das Schöne an Berlin ist, dass es nicht nur ein Zentrum gibt und jedes eine eigene DNA und eigene gewachsene Strukturen hat. Mit seinen verschiedenen Kiezen ist diese Stadt sehr abwechslungsreich. Dennoch sind die einzelnen Zentren mehr oder minder funktional. Generell kann man sagen, dass zum Beispiel kleinere Kieze wie der Boxhagener Platz in Friedrichshain mit dem sehr kleinteiligen Einzelhandel und der Gastronomie und den Märkten eine sehr hohe Qualität haben. Quartiere, in denen das Auto Vorfahrt hat, haben in der Regel eine geringere Aufenthaltsqualität und funktionieren nicht so gut.

Liegt also das Erfolgsgeheimnis eines Zentrums in der richtigen Mischung des Einzelhandels?

Das reicht heute nicht mehr. Interessante Läden beleben eine Stadt, aber wenn sie nicht in einen funktionalen Stadtraum eingebunden sind, schaffen sie nicht mehr genügend Frequenz. Der Handel allein bietet heute nicht mehr die Attraktivität, ein Zentrum zu füllen. Ein Viertel muss auch aus sich selbst heraus attraktiv sein, durch Gastronomie und kommerzfreie Orte – zum Beispiel Spielorte für Jung und Alt oder Sitzgelegenheiten an Springbrunnen. Es darf nicht zu laut sein, keinen Smog geben. Der Handel braucht mehr Aufenthaltsqualität.

Macht sich darin der Wettbewerb durch den Onlinehandel bemerkbar?

Genau. Das ist der große Treiber in dem Prozess. Vor 20 Jahren musste man ins Stadtzentrum gehen, wenn man etwas Spezielles haben wollte. Heute finde ich alles auch in Onlineshops. Der klassische Einzelhandel hat diese Alleinstellung für den Kauf der Waren verloren.

Ist es Ihrer Ansicht nach für ein Viertel ein ­Problem, wenn angestammte Kundenmagnete wie Warenhäuser verschwinden?

Nein, das wird überschätzt. Die Warenhäuser, die verschwinden, haben ja ihre Funktion als Kunden-attraktion weitgehend verloren. Ein Grund ist, dass sie vom Betreiber als Assetklasse betrachtet werden, als eine Immobilie, die mit möglichst breiten und tiefen Sortimenten betrieben wird. Aber das bietet das Internet auch. Es gibt Warenhäuser, oftmals familiengeführt, die sich dagegen als wichtiger funktionaler Bestandteil der Innenstadt betrachten. Sie vernetzen sich zum Beispiel durch Events mit dem Stadtleben, integrieren kleine Cafés und Boutiquen. Diese Formate funktionieren noch heute gut.

Inwiefern ist die Politik gefordert, damit Zentren attraktiver werden? Oder ist das allein Sache der Wirtschaft?

Die Politik muss mehr machen, weil derzeit viel an den Bebauungsplänen scheitert. Das betrifft zum Beispiel die Umnutzung eines Warenhauses. Zukunftsweisende Projekte setzen auf eine Mischung von Wohnen, Arbeiten und Einzelhandel. Investoren können aber nicht zehn Jahre auf die Genehmigung der Nutzungsänderung warten. Also machen sie ein reines Bürogebäude daraus, weil sie für das Wohnen keine Genehmigung haben. So entsteht aufgrund veralteter Bebauungspläne wieder Monotonie. Es gibt auch Beispiele, die zeigen, dass die Politik für die Resilienz der Innenstädte und den Klimaschutz handeln muss.

Nämlich?

Genügend Studien zeigen, wie wichtig die Begrünung der Innenstädte ist, um Überhitzung zu vermeiden und die Aufenthaltsqualität aufrechtzuerhalten. Heute gibt es klare Regeln, wie viele Parkplätze im Rahmen eines Neubauprojekts entstehen müssen, aber nicht, wie viel Grün angelegt werden muss. Das ist nicht mehr zeitgemäß.

Was kann die Wirtschaft selbst für attraktive Zentren unternehmen?

Es wird schon einiges gemacht. Ein gutes Beispiel ist der gesamte Kurfürstendamm. Die AG City als Zusammenschluss der dortigen Anrainer ergreift viele Maßnahmen, um ein lebendiges Quartier zu erhalten – zum Beispiel, indem der Leerstand zusammen mit den Immobilieneigentümern gut gemanagt wird. Ich bin auch gespannt, was am Potsdamer Platz passiert. Dort wird sehr viel in den Umbau investiert. Und sehr interessant finde ich die Ansätze, über Kunst und Kultur die Kieze zu beleben – zum Beispiel im Quartier rund um die Bülow-straße durch das Netzwerk von Urban Nation und das Urban Nation Museum.

Es gibt aber nicht in jedem Stadtzentrum eine Organisation wie die AG City. Was raten Sie kleineren Händlern, die selbst etwas für die Attraktivität ihres Kiezes unternehmen möchten?

Es gibt auch eine Menge einfacher Maßnahmen. Jeder Händler und jede Händlerin kann sich die Frage stellen, inwieweit man selbst den Stadtraum bespielen kann. Was kann ich vor meinem Schaufenster machen? Kann ich dort Ware ausstellen? Darf ich vielleicht den Parkraum vor meinem Ladengeschäft bewirtschaften? Auch kleine Maßnahmen können die Aufenthaltsqualität erhöhen – zum Beispiel durch Begrünung. Einige Händler spannen Fahnen und Wimpel, um den Straßenraum lebendiger wirken zu lassen. Außerdem: Kleinere Zusammenschlüsse von Händlern in einer Straße können auch etwas bewirken.

Sehr viele Diskussionen gibt es in Berlin um den Teil der Friedrichstraße, der zur Fußgängerzone erklärt wurde. Wie stehen Sie zu diesem Thema?

Die Idee ist gut, aber sie wurde nicht gut umgesetzt. Wenn eine Hauptverkehrsader in eine Fußgängerzone umgewandelt wird, bedarf es eines partizipativen Prozesses, um zu ermitteln, welche Bedarfe es in diesem Abschnitt gibt. Es reicht nicht, eine Straße zu sperren, die dann aussieht wie eine Baustelle, sondern es muss auch städteplanerisch gehandelt werden. Die Fußgängerzone allein ist kein Allheilmittel. Es gibt genügend Innenstädte, die trotz ihrer Fußgängerzonen Probleme haben. Andere Ideen taugen heute besser als Leitmotiv für die Stadtplanung.

Woran denken Sie dabei?

Ich finde die Idee von der Mischnutzung in einer Zehn-Minuten-Stadt sehr spannend. London geht diesen Weg. Alles, was man zum Leben braucht, soll innerhalb von zehn Minuten ohne das Auto erreichbar sein. Ich denke, das ist auch für unsere Innenstädte essenziell, um ein hohes Verkehrsaufkommen zu verhindern und die Aufenthaltsqualität in den Zentren zu verbessern.

Zum Abschluss mal ganz provokativ gefragt: Brauchen wir denn in der Zukunft überhaupt noch Zentren in unseren Städten, wenn die Menschen auch im Homeoffice arbeiten und alle Waren online einkaufen können?

Sicher gibt es Menschen, die das attraktiv finden. Aber es gibt auch genügend Studien, die zeigen, dass immer mehr Menschen vereinsamen – das sind nicht nur Senioren, sondern auch Jugendliche, obwohl die sehr viele soziale Kontakte über das Internet haben. Es fehlen ihnen die gemeinsamen Erfahrungen in der Eisdiele oder beim Rollschuhfahren. Wir brauchen eben eine Stadtgesellschaft, die sich trifft und austauscht. Auch der Zufall, mal irgendwo auf andere Menschen zu treffen, ist wichtig. Denn in Stadtquartieren, in denen es ein gesundes Leben außerhalb der Wohnungen gibt, werden wir weniger Probleme, mit Vereinsamung, Verslumung oder Vandalismus haben.