IHK Berlin

Wie KI und ChatGPT den Alltag im Steuerwesen revolutionieren könnten

KI-basierte Anwendungen wie ChatGPT zählen zu den weitreichendsten technischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte. Auch in der Steuerpraxis verspricht ihr Einsatz erhebliche Prozessoptimierungs- und Einsparpotenziale. Im Interview spricht Jens Henke, Vizepräsident des Steuerberaterverbandes Berlin-Brandenburg, über Chancen und Herausforderungen.

Wie würden Sie ChatGPT und dessen derzeitiges Einsatzpotenzial im Steuerbereich in einem Satz beschreiben?

Jens Henke: Recherchen zu Fachthemen lassen sich beschleunigen; Fachinformationen lassen sich Mandanten gerecht umformulieren.

In betrieblichen Steuerabteilungen können KI und ChatGPT u.a. zur Automation, zur Formulierung von Texten, zur Datenanalyse oder zum Gewinnen neuer Erkenntnisse und Lösungsansätze genutzt werden. Können Sie für diese Einsatzmöglichkeiten ein paar konkrete Beispiele aus Ihrem Arbeitsalltag nennen?

Nehmen wir komplexe und teils sehr lange Urteile; mit Hilfe von Sprachmodellen können wir die Kernpunkte des Urteiles eines Gesetzes oder auch einer Verwaltungsanweisung maschinell herausarbeiten und haben schnell eine erste Zusammenfassung. Natürlich entbindet uns dies nicht davon, das Urteil auch im Detail zu lesen; für den ersten Überblick und die damit verbundene Prioritätensetzung und Arbeitsplanung ist es gleichwohl sehr hilfreich.
Wie bereits gesagt, können wir dadurch auch Nicht-Fachleuten den Text zügig und in geeigneter Weise zugänglich machen.

Eine aktuelle Studie der US-Bank Goldman Sachs kommt zu dem Ergebnis, dass bis zu 300 Millionen Vollzeitarbeitsplätze weltweit durch KI ersetzt werden könnten. Werden KI und ChatGPT Ihrer Ansicht nach auch im Steuerwesen Arbeitsplätze kosten?

Ersetzbar sind tatsächlich rein repetitive Tätigkeiten, die bislang nötig sind, um die eigentliche Arbeit vorzubereiten, wie Vorerfassen von Buchungs- oder Steuerinformationen, Vorarbeiten im Bereich der Recherche. Das Erstellen von Präsentationen und Texten lässt sich auch durch KI-Sprachmodelle vorbereiten, die Qualitätsprüfung und auch die Verantwortung trägt am Ende ein Mensch. Menschen werden nicht notwendigerweise ersetzt, sie werden unterstützt.
Zudem haben wir Menschen es selbst in der Hand, zu entscheiden, wo, wie und wer KI einsetzt und wo und durch wen eben nicht. Diese Entscheidungen treffen wir seit Jahrtausenden; irgendwann haben Menschen herausgefunden, dass ein kreisförmiges Objekt die Bewegung beschleunigt, so wurde das Rad erfunden und der Mensch hat seine Anwendungsfälle definiert und stetig weiterentwickelt. Mit fortschreitenden Anwendungen hat der Mensch auch den passenden regulatorischen Rahmen entwickelt, denken wir nur an die heutigen Regelungen zum Inverkehrbringen bzw. zur Nutzung von Fahrzeugen. Genau diesen Entwicklungsweg wird das Thema KI auch nehmen, ein Thema, das sich erst seit knapp 60 Jahren entwickelt; wir stehen also noch weit am Anfang und finden seit wenigen Jahren erste Anwendungsfälle. Einer davon sind Sprachmodelle und hier ist mit Chat GPT ein Werkzeug auf dem Markt, das es durch sein Design geschafft hat, in kurzer Zeit eine recht beachtliche Marktdurchdringung zu erreichen.
Wenn wir also als Menschen die Entscheidung treffen, dass KI die Tätigkeit eines Menschen ersetzen soll, dann müssen wir auch eine Antwort auf die Frage haben, welche Tätigkeiten der Mensch dann alternativ ausführt. Wenn es ohnehin keinen Menschen für die Ausführung einer Tätigkeit gibt – wir haben aktuell in vielen Branchen Fachkräftemangel - dann ist die Antwort recht einfach. Wenn wir glauben, durch den KI-Einsatz Lohnkosten durch günstigere Technikkosten zu ersetzen, dann brauchen wir neue interessante Tätigkeitsfelder für diese Menschen, ansonsten könnten wir einen recht hohen gesellschaftlichen Preis zahlen.
Außerdem; KI kann nur diejenige Aufgabe erfüllen, die ihr von Menschen aufgegeben wird. Das heißt ich brauche Menschen, die in der Lage sind, der KI die Aufgabe so zu erteilen, dass die Aufgabe auch so erfüllt wird, wie sie zu erfüllen ist. Das Arbeitsergebnis selbst muss ebenfalls überprüft werden. Ziehen wir einen Vergleich zur Automobilproduktion: Dort wurde menschliche Arbeitskraft schon vor Jahrzehnten durch Roboter ergänzt. Auch dort obliegt sowohl die Programmierung als auch die Überwachung der Roboter und erst recht die Qualitätsprüfung dem Menschen.

KI und ChatGPT werden nicht nur die Art der Arbeit verändern, sondern auch die Art der Ausbildung, die wir für diese Arbeit benötigen. Wie müsste die steuerliche Ausbildung der Zukunft in Ihren Augen aussehen, um mit KI und ChatGPT Schritt halten zu können?

Die Steuerfunktion wird immer IT- und Daten-lastiger, das erkennt man gerade an der personellen Aufstellung vieler FinTechs und TaxTechs. Die fachlichen und persönlichen Anforderungen an die Menschen, die in der Steuerfunktion arbeiten, verändern sich rasant. Wir laufen der Entwicklung hinterher. Aktuell ist die Ausbildung noch sehr stark geprägt von der ausschließlichen Wiedergabe von Faktenwissen. Die seit Anfang der 1990er bestehende Ausbildungsordnung für Steuerfachangestellte wurde kürzlich geändert; allerdings meine ich, dass wir viel breiter in der Methodik, dem Erschließen von Wissen, dem Definieren und Pflegen von Prozessen ausbilden müssen, als es diese Ordnung vorsieht. Gleiches gilt für das Steuerberaterexamen; es ist schön, wenn man nach der Vorbereitung auf den Punkt genau Wissen abrufen kann, das zum Bestehen einer Klausur ausreicht. Es wäre besser, wenn wir auch hier Methodik, Datenanalyse, Prozesswissen, IT Wissen und vor allem Führung schulen und prüfen. Alle Ausbildungen müssen dynamischer werden, es kann nicht sein, dass technische Entwicklungen und Veränderungen personeller Anforderungen über mehrere Jahre in Gremien abgestimmt werden müssen, bis wir zu einer Anpassung der Ordnungen kommen. Nichts gegen die vielfach auch ehrenamtlich oder nebenamtlich begleiteten Gremien und nichts gegen unser Ausbildungssystem. Wir sind nur nicht dynamisch genug. Es ist daher schade, dass sich gerade die Finanzverwaltungen, die die Hoheit über das Steuerberaterexamen hat, recht schwertut, das antiquierte System zu überdenken.

Welche Herausforderungen und Risiken sehen Sie bei der Verwendung von ChatGPT in der steuerlichen Praxis? Und wie sollten betriebliche Steuerabteilungen die Arbeit mit KI intern organisieren/regeln, um angesichts dieser Risiken die Qualität ihrer Arbeit sicherzustellen?

Ohne eine Integration in das interne Qualitäts-, Datenschutz- und Sicherheitsmanagement geht es nicht. Es ist exakt zu definieren, wer welche KI-Anwendung für welchen Anwendungsfall nutzen darf und welche Qualifikationen oder Rollen in der Unternehmensorganisation hierfür notwendige Voraussetzungen sind. Auch muss sichergestellt sein, dass personenbezogene Daten oder Geschäftsheimnisse nicht das Unternehmen verlassen. Auch hier stehen wir erst am Anfang.
Ein weiterer Aspekt ist mir gerade mit Blick auf FinTechs und TaxTechs wichtig, die mit Unternehmens- oder Mandantendaten arbeiten und diese bei sich speichern. Nicht jedes dieser Unternehmen wird dauerhaft am Markt bleiben oder zumindest wird es zu Anpassungen von Geschäftsmodellen und somit zur Einstellung von Zusammenarbeiten kommen. Unterbrechen wir als Steuerberaterinnen und Steuerberater unsere Tätigkeit, z.B. aufgrund schwerer Krankheit, oder stellen diese ein, gibt es mit der Vertretungspflicht, der geregelten Kanzleiabwicklung – im Zweifel durch die Kammer - und der Pflicht zur Herausgabe der Daten in einer zur einfach ermöglichten weiteren Nutzung klare regulatorische Regelungen. Diese sehe ich für TaxTechs und FinTechs aktuell nicht. Diese braucht es jedoch, da deren Software zunehmen und die Arbeit der Steuerfunktion ersetzt oder ergänzt.

ChatGPT hat zu einem Sprung bei den Einsatzmöglichkeiten Künstlicher Intelligenz im Arbeitsalltag geführt. Welche nächsten Entwicklungspotenziale sehen Sie auf diesem Gebiet in den kommenden Jahren, insbesondere was auch die Integration von ChatGPT in andere Anwendungen/Apps betrifft? Wo geht die Reise im Steuerbereich Ihrer Meinung nach hin?

Wir werden eine Verbesserung unserer Recherche-Möglichkeiten erhalten, indem wir ein Sprachmodell, wie Chat GPT, mit den Datenbanken der Fachverlage, aber auch datenschutz- und berufsrechtskonform, mit unseren internen Datenbanken verknüpfen.
Durch eine Integration der Sprachmodelle in Office-Software, aber auch in Fachanwendungen, können wir Dokumente schneller erstellen, aber auch Daten schneller analysieren. Ein Anwendungsbeispiel, das ich vorhin nicht genannt habe, ist die Bilanzanalyse oder auch die Unterstützung bei der Erstellung von Lageberichten.

In den letzten Jahren hat sich zwar auch in Steuerabteilungen zunehmend ein Bewusstsein für digitales Arbeiten und digitale Prozesse entwickelt. Trotzdem befinden sich nicht wenige Unternehmen beim Thema Digitalisierung des Steuerbereichs noch im Anfangsstadium. Ist der Einsatz künstlicher Intelligenz in solchen Fällen noch weite Zukunftsmusik? (Bzw. anders formuliert: Kommen die Vorteile von KI überhaupt zum Tragen, wenn die Digitalisierung im Unternehmen noch nicht/nur teilweise gelungen ist?)

Voraussetzung für all dies ist, dass wir es in den Unternehmen und Kanzleien schaffen, weitestgehend mit strukturierten Daten in Tabellen- oder Textform zu arbeiten. Eingescannte PDF- bzw. Bilddateien ohne ausgelesenen strukturierten Text als Datensatz bringen uns überhaupt nichts. Die schönen Leitzordnern in den Regalen auch nicht. Wer also die Potentiale von KI-Modellen, seien es Modelle zur Finanzanalyse und Vorschau, seien es Sprachmodelle zur Textgenerierung, nutzen will, muss sicherstellen, dass alle Unternehmensprozesse erstens standardisiert sind und zweitens in der Folge alle Daten auch strukturiert digital vorhanden sind. Wer diese beiden Schritte noch nicht vollendet kann, kann das mit dem Einsatz von KI auch lassen, das kostet nur Geld und führt nicht zum Erfolg.
Um in der Gegenwart die Potentiale von Automation und KI optimal zu nutzen, ist es auch wichtig, das eigene Geschäftsmodell anzupassen und gegebenenfalls auf angrenzende Geschäftsfelder zu erweitern. Als sehr auf Immobilienthemen fokussierte Kanzlei haben wir beispielsweise eine Hausverwaltung gegründet, um unseren Mandanten auf einer Datenbasis genau einen ineinandergreifenden Prozess rund um die Verwaltung der Immobilie zu ermöglichen.
Genau dies ist die Herausforderung für die Steuerberatung im Speziellen, nämlich sich zu standardisieren und digital optimal für das eigene Geschäftsmodell aufzustellen und sich gleichzeitig zu überlegen, wie man die eigene Tätigkeit sinnvoll fokussiert.

Lassen Sie uns zum Abschluss noch auf Gefahren durch KI eingehen. Welche Risiken sehen Sie?

Durch den Einsatz von Sprachmodellen als Formulierungshilfe werden Phishing-Mails aber auch gefälschte Schreiben irgendwelcher angeblicher Register immer besser. Auch Social Media Posts von Unternehmen oder Personen lassen sich recht gut nachahmen. Wir müssen uns also immer drängender die Frage stellen, wie wir die Echtheit von Informationen im digitalen Raum absichern. Nicht ohne Grund haben wir Steuerberaterinnen und Steuerberater seit Beginn des Jahres über die Steuerberaterplattform unsere digitale Steuerberateridentität. Doch auch bei diesem Thema stehen wir in Deutschland noch am Anfang.