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An der Stufe zu neuen Welten

KI steht oft am Anfang bisher unbekannter Technologien. An den Berliner Zukunftsorten entwickeln Start-ups spannende Geschäftsideen, etwa am Humboldthain und in Charlottenburg.
Die öffentliche Debatte über künstliche Intelligenz (KI) wird vor allem von Risikoszenarien bestimmt: 40 Prozent der Deutschen befürchten, KI könne ihren Job ersetzen. Eine verengte Perspektive, vor der Tina Klüwer, Leiterin „Künstliche Intelligenz Entrepreneurship Zentrum“ (K.I.E.Z.), warnt: „Wenn wir angsterfüllt an die Technologie herangehen, gewinnen wir weder einen klaren Blick auf deren Chancen noch auf die echten Risiken.“ Stattdessen laufe man Gefahr, imaginierte Risiken abwehren zu wollen und realistische missbräuchliche Anwendungsfälle zu übersehen – und im Zuge dessen KI-Gründungen auszubremsen (siehe Interview).
Gründungen, die immer häufiger aus Berliner Hochschulen und Instituten hervorgehen und in der lokalen Infrastruktur für KI-Start-ups erste Wurzeln schlagen. Eine wichtige Rolle spielt dabei der Technologie-Park Humboldthain. Der Zukunftsort vereint Wissenschaft und Innovation; von KI, Robotik bis hin zu Biotechnologie und erneuerbaren Energien. Am AI-Campus, dem Zentrum für Künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen, erforschen Expertinnen neue Anwendungsmöglichkeiten von KI.

Geld und Kontakte sind das Wichtigste

Auch das K.I.E.Z. der Berliner Universitäten ist hier angesiedelt, in dem zum Beispiel sylby eine Aussprachelern-App entwickelt. Sprachlern-Apps gibt es einige, aber wie spreche ich komplexe Laute einer Fremdsprache korrekt aus? „Eigentlich benötigt man dafür spezielles logopädisches Training, aber der Bedarf ist viel höher als das Angebot“, erklärt Co-Gründerin Vera Scholvin. Sylbys KI übernimmt diese Aufgabe. „Forschungsnetzwerke und Infrastruktur für Gründungen sind in Berlin bei KI-Projekten sehr gut“, kommentiert Scholvin. Die Finanzierungslandschaft mag sie nicht uneingeschränkt loben. So geraten ihrer Erfahrung nach auch KI-Start-ups nach der Exist-Phase in schwieriges finanzielles Fahrwasser. „Bis man Zugang zu den entsprechenden Netzwerken bekommt, muss man sich erst einmal über Wasser halten können“, fasst Scholvin ihre Erfahrungen zusammen. Zwar sei es richtig, die Gründungsteams von Science-Tech-Start-ups beim Thema Fundraising zu coachen. Aber: „Coaching löst auch nicht alles, und am Ende geht es um Geld und Kontakte“. Für sylby hat es funktioniert. Sie sind dabei, die erste Finanzierungsrunde zu schließen; Business Angels sind bei ihnen eingestiegen.
Das Start-up yoona.ai hat seine Gründung im K.I.E.Z.-Accelerator vorangetrieben und eine B2B-Plattform entwickelt, die Mode designt. „Unsere KI entwirft zum Beispiel eine Modelinie, und die Designer des Kunden können mit diesen Entwürfen weiterarbeiten“, erklärt Anna ­Franziska Michel, CEO und Co-Founder. „Dadurch können sie schneller, näher am Trend und kosteneffizienter als bisher arbeiten.“ Die Idee entwickelte Michel an der HTW, im engen Verbund der Fachbereiche Design und Informatik. Fashion soll aber nur der erste Schritt sein. „Wir wollen yoona.ai zu einer universalen, globalen KI-Design-Plattform ausbauen. Autos, Boote – jedes Produktdesign soll möglich werden“, so die Entwicklungsvision. Der Einstieg von Business Angels ermöglicht die nächsten Schritte dorthin. „Angel-Investoren bringen nicht nur Geld, vor allem bringen sie Netzwerke und viel Erfahrungswissen ein. Ich kann, wenn ich eine neue Herausforderung sehe, auch einmal anrufen und fragen, wie sie das gelöst haben“, erklärt Michel deren Rolle.
Eine Aufgabe von Angel-Investoren, die auch Sonja Jost, Vizepräsidentin der IHK Berlin, betont. „Start-ups müssen ihr Produkt schnell ausrichten, sich mit den richtigen Partnern vernetzen und die nötigen finanziellen Mittel akquirieren. Erfahrene MentorInnen aus Industrie und Wirtschaft können hier wertvolle Unterstützung leisten. Die richtigen Business Angels bringen Netzwerke, Branchenwissen und unternehmerische Erfahrung in die Unternehmen ein. Gerade Gründungsteams, die aus der Forschung kommen, fehlt es oft an Know-how zu klassischen Unternehmensaufgaben von Finanzierung bis zur Kundenakquise“, fasst Jost zusammen. Umso enttäuschender sei es, dass der Blick gerade auf erfahrene Angel-Investoren hierzulande oft kritisch ist. Denn es gebe kaum eine bessere Förderung innovativer Gründungen, erklärt Jost: „Gute Business Angels investieren Smart Money. Sie achten sehr darauf, dass sie nur in qualitativ hochwertige Projekte investieren, bei denen sie Mehrwerte generieren können. Es ist das Gegenteil der Gießkannenförderung. Staat und Gesellschaft sollten dieses Engagement fördern und die immense Wichtigkeit für das gesamte Ökosystem entsprechend honorieren.“
Ein weiterer Ort der Berliner KI-Zukunft ist der Campus Charlottenburg. Hier bietet die TU eine Plattform für Wissensaustausch mit der Industrie, Start-ups und anderen Partnern an. Am Campus finden sich zudem das nationale Kompetenzzentrum für KI – das Berlin Institute for the Foundations of Learning and Data (BIFOLD) und das Fraunhofer Heinrich-Hertz-Institut. Grundlagen des maschinellen Lernens sowie neue Modelle des Deep Learnings werden hier entwickelt. Viele Spin-offs dieser Einrichtungen sitzen im Charlottenburger Innovations-Centrum (CHIC).

KI-Lösung erweitert Nutzerkreis

Eines davon ist Quantistry. Die FU-Ausgründung entwickelte eine KI, die komplexe chemische Reaktionen und deren Ergebnisse simuliert. „Simpel gesagt“, fasst Co-Founder Marcel ­Quennet zusammen, „prognostiziert unser KI-Modell beispielsweise, welche Eigenschaften ein Molekül haben wird.“ Bisher waren solche Instrumente nur ressourcenstarken Großunternehmen zugänglich, die speziell geschulte Experten und Supercomputing Power bereitstellen konnten. Quantistrys KI-Lösung senkt diese Hürden massiv. „Unsere Software arbeitet zu einem Bruchteil der bisherigen Kosten. Mit ihr können auch Nicht-Experten Simulationen durchführen, die vorher den Big Playern vorbehalten waren“, erklärt ­Quennet. Um Kooperationspartner und Kunden muss sich Quantistry nicht sorgen – in Berlin allerdings finden sich die wenigsten. Kein Problem für das Start-up: „Wo die Kunden sitzen, ist für uns nicht so wichtig. Unser Produkt ist ja digital.“ Allzu viele adaptionsfähige Kunden mag es vor Ort also nicht geben. Die Voraussetzungen für KI-Gründungen in Berlin sind trotzdem gut, ist sich Quennet sicher: „In Forschung und Lehre ist Berlin top!“
Dass Berlin ein Top-Forschungsstandort ist, verdankt es ganz erheblich Zuwanderern wie Mina Kolagar und Farzad Vesali. Die iranischstämmigen Co-Founder von PANTOhealth forschten in Berlin und Leipzig zu Energiesystemen der Bahninfrastruktur. Dann wagten sie den Sprung in die Wirtschaft. Mittels sensor- und KI-generierter Daten ermittelt PANTOhealth die Wartungszeitpunkte für die Stromabnehmer von Zügen. „Bisher wussten die Unternehmen nicht genau, wann die Schleifstücke, die den Kontakt mit der Oberleitung herstellen, gewechselt werden müssen“, erklärt Kolagar. Mit der Sensor-KI-Lösung des Start-ups ist das nun punktgenau möglich. Für Bahnunternehmen ein wichtiger Effizienzfaktor. Berlin wählte das Gründungsteam nicht allein der akademischen Herkunft wegen als Standort: „Die Gründungs-Infrastruktur hier hat uns sehr geholfen.“ Also alles wunderbar für KI-Start-ups? „Der Zugang zu etablierten Unternehmen ist teils mühsam“, weiß Kolagar, „viele deutsche Unternehmen wirken sehr traditionell und in ihrer eigenen Welt verhaftet.“ Und private Investoren seien zu sehr darauf bedacht, Risiken durch öffentliche Förderung abzumildern. Aber Berlin sei der Ort, an dem PANTOhealth wachsen könne: „Unsere Vision ist, zu einem Zentrum für Herausforderungen in der Bahntechnologie zu werden“, schließt Kolagar.
Linguistik, Fashion, Chemie und Wartungsintervalle – auf allen Feldern eröffnet KI Möglichkeiten, die bisher wenigen vorbehalten waren. Sie kann also, richtig angewendet, demokratisierend wirken und ist Quelle eines Innovationszyklus, der sich zu Recht disruptiv nennen darf.
Von Christian Nestler