Fokus | Fachkräftesicherung

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Mit einer Ausbildungsoffensive unterstützt die IHK Berlin Unternehmen bei der Fachkräftesicherung. Neue Mitarbeiter müssen auch leichter aus dem Ausland kommen können.
Die Zahlen sind alarmierend. Gut 40 Prozent der Berliner Unternehmen können laut Herbstumfrage der IHK Berlin schon heute offene Stellen längerfristig nicht besetzen. Jeder zweite Betrieb sucht erfolglos Arbeitskräfte für die duale Ausbildung. In den kommenden Jahren wird sich die Lage weiter zuspitzen, wenn die Babyboomer in Rente gehen. Schon heute zählt der Fachkräftemangel nach den Energie- und Rohstoffpreisen und der Inlandsnachfrage für die Industrie zu den Top-Risiken, so die jüngste DIHK-Konjunkturumfrage. „Bis 2035 werden in Berlin rund 414.000 Fachkräfte fehlen. Hinzu kommt ein nicht zuletzt durch den demografischen Wandel bedingter allgemeiner Arbeitskräftemangel über alle Branchen hinweg. Ohne Zuwanderung und Arbeitsmigration werden wir dem nicht begegnen können“, sagt Sebastian Stietzel, Präsident der IHK Berlin. Wie können Politik und Wirtschaft gegensteuern? Wie unterstützt die IHK ihre Mitglieder?

Dreijahreskampagne für Ausbildung

Mit einer auf drei Jahre ausgelegten Ausbildungsoffensive will eine neue Kampagne der IHK Berlin mehr Jugendliche für eine berufliche Ausbildung gewinnen, die Ausbildungsangebote erweitern und das Matching zwischen Jugendlichen und Unternehmen verbessern. Im ersten Jahr liegt der Fokus darauf, Jugendlichen noch vor dem Schulabschluss mehr Praxiserfahrungen in Unternehmen zu ermöglichen. Da pandemiebedingt in den vergangenen zwei Jahren die meisten ­Schulpraktika ausgefallen sind, hatten Jugendliche kaum Gelegenheit, Berufswelten praktisch zu erleben. Die Kampagne hat sich deshalb zum Ziel gesetzt, diesen Missstand gemeinsam mit den Partnern aus der Wirtschaft sowie der Senatsverwaltung für Bildung durch direkte Unterstützungsangebote für Schulen, Jugendliche und Eltern zu beheben.
Zu den Leuchtturmprojekten der Ausbildungsoffensive gehört eine Praktikumswoche, in der Schüler an fünf Tagen fünf verschiedene Praktika machen können, sei es in fünf verschiedenen Unternehmen oder fünf Berufsbilder in einem Betrieb. Das Projekt startet vor den Sommerferien und endet kurz nach den Ferien. Ein digitales Matching-Portal informiert über die Angebote. Ein zweites Leuchtturmprojekt sind Ausbildungsbotschafter, die von Ostern 2023 an in Berliner Schulen über alle Facetten ihrer Ausbildung berichten sollen. Mit diesem Peer-to-Peer-Ansatz will die IHK die Authentizität stärken und den Nerv der Gen Z treffen. Die Azubis werden vorab durch die IHK geschult, um zusätzliche Lerninhalte und eine individuelle Präsentation sicherzustellen. Möglichst niedrigschwellig sollen so die Unternehmen die Möglichkeiten bekommen, frühzeitig Kontakt zu Schülern und damit potenziellen Fachkräften zu knüpfen. Denn zahlreiche Erfahrungen aus der Praxis belegen, dass Betriebe, die zum Beispiel Schulpatenschaften übernehmen, leichter Azubis finden.
Doch die Berufsorientierung und passgenaue Ausbildung können nur ein Baustein sein. Ohne eine verstärkte Fachkräfteeinwanderung werden die Unternehmen den Mangel nicht beheben können. Einerseits profitiert die Hauptstadt von ihrem Ruf als lebenswerter Arbeitsort, andererseits gilt es zahlreiche Hürden zu meistern. Für IHK-­Präsident Stietzel steht fest: „Berlin ist eine internationale Metropole und Anziehungsort für Menschen aus aller Welt. Bei der Suche nach den Talenten von morgen stehen wir jedoch im Wettbewerb mit anderen Metropolen und Staaten.“ Das einzigartige duale Berufsausbildungssystem Deutschlands sei hierbei eine besondere Herausforderung, da viele interessierte Fachkräfte diesbezüglich mit Herausforderungen bei der Anerkennung der Gleichwertigkeit ihrer Berufsqualifikation zu kämpfen hätten. Eine weitere Hürde sei gerade in den überwiegend kleineren Betrieben Berlins die Sprache. „Wir brauchen daher einen klug austarierten Maßnahmenmix, um die internationale Anziehungskraft Berlins auch für die Ansiedlung von Arbeits- und Fachkräften vollständig zu nutzen“, so Stietzel. Dazu zählen für ihn: ein konsequenter Ausbau der Sprachkursangebote und der Verzicht der Voraussetzung vollständiger Gleichwertigkeit der Berufsqualifikation. Wichtige Bausteine seien zudem weitere Vermittlungsabsprachen und -kapazitäten mit Nicht-EU-Staaten.

Ausländische Fach- und Arbeitskräfte

Auch die IHK-Konjunkturumfrage vom Herbst 2022 zeigt, welche Bedeutung die Berliner Unternehmen ausländischen Fach- und Arbeitskräften beimessen. Befragt nach den benötigten Rahmenbedingungen zur Fachkräftesicherung, rangierte bei fast jedem zweiten Antwortgeber zwar ein Bürokratieabbau für Unternehmen vorn, damit Beschäftigte mehr Zeit für eigentliche Tätigkeiten haben. An zweiter Stelle folgte das Stärken der beruflichen Bildung, aber bereits an dritter die erleichterte Einstellung von ausländischen Fach- und Arbeitskräften.
Mit der erfolgreichen Suche allein ist es jedoch nicht getan. „Unser Ziel sollte nicht nur die Gewinnung neuer Fachkräfte, sondern auch die Sicherung der bestehenden sein“, ist IHK- Vizepräsidentin Nicole Korset-Ristic überzeugt. „Angesichts der aktuellen Prognosen können wir es uns eigentlich nicht leisten, auch nur eine einzige Fachkraft zu verlieren. Hierfür braucht es moderne, mutige und nachhaltige Konzepte für eine zukunftsfähige Arbeitswelt.“ Arbeitgebern müsse verdeutlicht werden: Diversität, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, attraktive Weiterbildungsangebote und viele weitere Faktoren seien letztlich auch im ökonomischen Interesse eines jeden Unternehmens, da diese nachhaltig zur Fachkräftesicherung beitrügen. So gäbe es beispielsweise auf einen Schlag 840.000 Arbeitskräfte mehr, wenn Frauen mit Kindern unter sechs Jahren so viel arbeiten könnten, wie sie wollten.

IHK unterstützt mit vielen Services

Wie Unternehmen Fachkräfte sichern können, wird auch Schwerpunkt einer Veranstaltung der IHK Berlin im Sommer 2023 im ­Ludwig Erhard Haus sein. Mit zahlreichen weiteren Services wie etwa einer Erstauskunft zu Arbeits- und Aufenthaltsrechtsthemen unterstützt die Kammer ihre Mitglieder beim Finden und Binden von Beschäftigten (siehe nebenstehende Spalte).
Auch die Unternehmen selbst gehen in die Offensive, um den bereits bestehenden oder absehbaren Fachkräftemangel zu beheben oder zumindest zu lindern. Und beschreiten dabei auch ungewöhnliche Wege. Softwareriese SAP etwa, mit einem großen Digital-Campus in Berlin vertreten, kündigte jüngst an, künftig auch Bewerberinnen und Bewerber ohne einen universitären Abschluss zum Bewerbungsgespräch zu bitten. Beim Berliner Fintech Raisin dürfen die Beschäftigten künftig bis zu drei Monate pro Jahr im Ausland arbeiten, in Deutschland gibt es gar keine Anwesenheitspflicht mehr im Büro.
Auf Hochschulkooperationen und verstärktes Anwerben von Fachkräften aus dem Ausland setzt Matthias Krinke, Chef der pi4 robotics GmbH. Die Spie GmbH, Anbieter technischer Dienstleistungen, will erstmals mit einer Werbekampagne im Kino ihr Unternehmen und die vielfältigen Berufsbilder bekannter machen. Und Matthias Teßmer, Geschäftsführer der Berliner Mobil-Line GmbH, überzeugte ein Mitarbeiter aus dem Libanon von einem wagemutigen Schritt: In Beirut wird der Mobilfunkanlagen-Spezialist ein Planungsbüro für seine Berliner Projekte eröffnen.
von Eli Hamacher