IHK Berlin
Zweite Chance für Karotte & Co.
Zu viele Lebensmittel landen in der Tonne und dürfen nicht wieder rausgeholt werden. Die Branche sucht nach neuen Wegen für noch gute Ware.
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Wer ist nicht gegen Lebensmittelverschwendung? Nicht erst seit dem russischen Überfall auf die Ukraine und der daraus resultierenden weltweiten Versorgungskrise bei vielen Grundnahrungsmitteln besteht in der Öffentlichkeit darüber Konsens, dass Getreide, Mais & Co. effizienter und umweltschonender produziert, transportiert und vertrieben werden müssen. Wie so oft wird das Ganze etwas komplizierter, sobald man ins Detail geht.
Nehmen wir das Beispiel der Straffreiheit fürs „Containern“. In Deutschland ist es unter Androhung von Gefängnisstrafen – die aber in der Praxis nie verhängt werden – verboten, Lebensmittel aus Abfallbehältern (daher „Containern“) zu „retten“. Die Bundesregierung möchte diesen Paragraphen nun streichen. Der Lebensmittelhandel verweist dabei auf zwei Aspekte: Erstens sind die Waren potenziell gesundheitsschädlich, da entweder das Mindesthaltbarkeitsdatum lange abgelaufen ist oder weil in den Containern weiterer Abfall, wie Glassplitter, zu Verunreinigungen führen kann. Wer haftet dann bei Verletzungen oder Vergiftungen? Zweitens befinden sich die Container meistens in abgesperrten Bereichen auf dem Supermarktgelände, sodass Hausfriedensbruch begeht, wer sich dort Zugang beschafft.
Ein weiteres störendes Detail ist, dass laut Branchenverband BVLH gerade sieben Prozent der in Deutschland entstehenden Lebensmittelverluste im Handel anfallen. Schätzungsweise gehen 50 Prozent auf private Haushalte zurück, also seien Aufklärungskampagnen, die an die Verbraucher gerichtet sind, der wirksamere Hebel.
Eine weitere rechtliche Stellschraube benennt im „Spiegel“ Verbandsgeschäftsführer Franz-Martin Rausch: „Wenn Staat und Politik wirksam die Lebensmittelverschwendung reduzieren wollen, sollten Lebensmittelunternehmen und gemeinnützige Organisationen dabei unterstützt werden, mehr verzehrfähige Lebensmittel zu spenden und an Bedürftige zu verteilen“, denn bisher falle bei solchen Spenden die Mehrwertsteuer an. In Frankreich ist es großen Einzelhändlern und Supermärkten seit 2016 nebenbei verboten, Lebensmittel wegzuwerfen, sie müssen gespendet werden.
Abgelaufene Ware in Umlauf bringen
Gespendet werden Lebensmittel in Deutschland bisher freiwillig, an gemeinnützige Organisationen wie die Tafeln. Seit mehreren Jahren besteht ferner die Möglichkeit, Waren mir kurzem Haltbarkeitsdatum an Unternehmen weiterzureichen, die sie wieder in den Umlauf bringen. Beispiele dafür sind Too Good To Go, Motatos oder Sirplus. Letztere starteten in Berlin 2017, gewannen 2018 den Green Buddy Award und eröffneten schnell nacheinander neue Standorte. Der Dämpfer kam im September 2021, als Sirplus alle fünf Läden schließen und Mitarbeiter entlassen musste. Seitdem beschränkt sich das Start-up aufs Online-Geschäft, ähnlich wie die Mitbewerber.
Dass es bei dieser Frage nicht schnell und einfach geht, merkten die Aktivisten der „Letzten Generation“. Anfänglich verbanden sie ihre Klebeproteste mit der Forderung, ein Gesetz gegen Lebensmittelverschwendung zu verabschieden. Sie nahmen auch Lebensmittel aus Supermarktmülltonnen und verteilten sie in öffentlichkeitswirksamen Container-Aktionen. Das von ihnen geforderte „Essen-retten-Gesetz“ gibt es noch nicht, die Straffreiheit fürs Containern wird immerhin parlamentarisch diskutiert. Eine Online-Petition an den Bundestag, die Sirplus mit dem Ziel initiiert hat, Lebensmittel mit einem abgelaufenen Mindesthaltbarkeitsdatum mit null Prozent zu besteuern, fand innerhalb von zwei Monaten nur 2.560 Unterstützer. Die Mühen der Ebene sind eben unsexy.
von Dr. Mateusz Hartwich