Auf den Punkt

Technologietransfer neu denken

Meinung
In der Kolumne „Auf den Punkt“ ­positionieren sich im ­monatlichen Wechsel Mitglieder des ­Präsidiums zu wirtschaftspolitischen ­Fragestellungen aus ihrer persönlichen Sicht.
Unsere Industrie muss dringend hin zu nachhaltigen Wertschöpfungsketten transformiert werden – ansonsten drohen nie da gewesene Folgen für unser Land.
Wie soll unsere Wirtschaft der Zukunft aussehen – das ist die große Frage. Wollen wir eine Industrienation bleiben? Wollen wir das gesamte Potenzial unserer Gesellschaft heben? Und können wir es uns überhaupt leisten, diese Fragen zu stellen? Ein Beispiel: Die chemische Industrie ist die drittgrößte Branche in Deutschland, wir sind neben Japan die drittgrößte Chemienation der Welt. Fast die gesamte Wirtschaft basiert auf chemischen Produkten. Mögen populäre Vertreter der deutschen Start-up-Szene gerne behaupten, unsere Zukunft sei rein digital und es brauche keine Industrie am Standort Deutschland: Die weltweiten Störungen in den Lieferketten und ihre Folgen beweisen das Gegenteil. Wir können unseren Wohlstand ohne inländische Produktion nicht halten. Aber wir müssen dringend unsere Industrie hin zu nachhaltigen Wertschöpfungsketten transformieren, ansonsten riskieren wir bisher nie da gewesene, negative Folgen für unser Land.
Um das abzuwenden, gibt es nur eine Lösung: Wir müssen Innovationen in diese Industrien und damit in die Märkte bringen. Leider schaffen wir das bisher kaum. So flossen 2018 in Deutschland nach einer Studie des Verbands der Chemischen Industrie von insgesamt mehr als drei Mrd. Euro Risikokapital nur 2,4 Mio. Euro in Chemie-Start-ups. Angesichts des seit Jahren sinkenden EU-Anteils am weltweiten Chemiemarkt ist das nicht nachvollziehbar. Was ist zu tun? Die erste gute Nachricht ist, wir haben in Berlin in vielen wichtigen Deep-Tech-Bereichen wie der Chemie ein bundesweit ziemlich einzigartiges Wissenschaftssystem. Wir müssen „nur“ dafür sorgen, dass dieses Wissen auch in den Markt gelangt. Die zweite gute Nachricht ist, dass wir – möglicherweise zum ersten Mal überhaupt – in Berlin für Wissenschaft und für Wirtschaft verantwortliche Staatssekretärinnen und -sekretäre haben, die offenbar verstanden haben, wie wichtig Technologietransfer für unser aller Zukunft ist. Meine ersten diesbezüglichen Gespräche als verantwortliches, neues Präsidiumsmitglied lassen jedenfalls auf eine enge und fruchtbare Zusammenarbeit hoffen.
Entscheidend für den Erfolg ist aber noch etwas: Wir müssen uns endlich von Klischees, wie gute Führungskräfte auszusehen haben, verabschieden. Wir brauchen die Besten der Besten, um international wettbewerbsfähig zu bleiben – unabhängig von sozialer Herkunft, Geschlecht, Hautfarbe oder Religion. Wir haben einiges nachzuholen in Deutschland und insbesondere in Berlin, wenn wir wirklich eine internationale Stadt sein wollen. Fachkräfte wollen zu uns aufgrund unserer Diversität. Enttäuschen wir sie nicht.
Von Sonja Jost
Vizepräsidentin der IHK Berlin und Gründerin des grünen Chemie­-Start-ups DexLeChem