BW 05/2022 - BRANCHEN

Im Westen viel Neues

Industrie, Brainpool, Lebensraum: Der 1847 gegründete Konzern Siemens verwandelt einen ­Traditionsstandort ins zukunftsweisende ­Wirtschaftsareal Siemensstadt Square
Über mangelndes Interesse kann Stefan Kögl nicht klagen. „Wir haben mehr als 100 Anfragen von Unternehmen, die eine Ansiedlung auf dem Areal Siemensstadt Square ausloten möchten“, sagt der General Manager der Projektentwicklungsgesellschaft ­Siemenststadt2. Auf einem 76 Hektar großen Gelände zwischen Charlottenburg und Spandau will der 1847 in Berlin gegründete Tech-Konzern einen Stadtteil der Zukunft schaffen. Und nicht nur Firmen zieht es nach Siemensstadt Square, wie der Zukunftsort seit einer Befragung von Bürgern heißt.
„Uns besuchen neben Wirtschaftsbossen Politiker, Botschafter, Start-ups und natürlich die Anwohner, die wissen möchten, wie wir künftig arbeiten und produzieren“, sagt Kögl, der dann häufig auch beantworten muss, warum es denn noch so lange dauere, bis das alte Areal fit für die Zukunft gemacht worden sei. Mit dem US-Unternehmer Elon Musk und seiner Giga-Fabrik in Grünheide hat schließlich jemand in der Region vorgemacht, wie Tesla-Tempo geht.
Kögl lässt sich davon nicht aus der Ruhe bringen. „Heute ist die Siemensstadt ein für die Öffentlichkeit unzugängliches reines Industrie-areal, auf dem nur produziert wird. Künftig werden wir ein Treffpunkt mit einem innovativen Ökosystem, an dem Menschen zum Leben, Wohnen, Arbeiten und Forschen zusammenkommen. Die Nähe zwischen Wohnen, Industrie und Gewerbe wird einzigartig sein.“ Rund 600 Mio. Euro will Siemens bis zum Jahr 2030 in die größte Einzelinvestition der Unternehmensgeschichte in Berlin stecken. „Inklusive Investitionen von externen Unternehmen, denen der Konzern zum Beispiel Grundstücke auf dem Areal verkaufen will, werden es rund drei Milliarden Euro sein“, so Kögl. Neben den schon vorhandenen Arbeitsplätzen von Siemens und Siemens Energy entstehen weitere Flächen für ca. 20.000 Arbeitsplätze für diese externen Firmen.
„Bis 2024 werden wir die Produktion auf zwei Industriehubs konzentrieren“, erläutert Kögl. Im südlichen Hub wird sich die Siemens AG ansiedeln, im nördlichen Hub die Siemens Energy AG. Neben der Produktion sollen rund 2.700 Wohnungen entstehen, eine vierzügige Grundschule, zwei Kitas, mehrere soziale und kulturelle Einrichtungen sowie Einzelhandel und Gastronomie. Anfang 2024 sollen die Bauarbeiten für zwei neue Bürogebäude für Siemens-Mitarbeiter sowie für ein Ausbildungszentrum für die Lehrlinge und Dual-Studierenden des Konzerns beginnen und zwei Jahre später bezugsfertig sein. Wenn die Beschäftigten aus den heute denkmalgeschützten Immobilien umgezogen sind, beginnt die Transformation dieser Gebäude.
Bei den externen Unternehmen werden wir gezielt Technologiepartner ansprechen, die in unser Ökosystem passen“, gibt Kögl das Ziel vor. Fokus seien Energie, Mobilität, Industrie 4.0 und Digitalisierung, also die Kerngeschäftsfelder von Siemens. „Wir werden zeitnah erste Firmen finden, die sich hier ansiedeln werden.“
Eine herausragende Bedeutung für das Ökosystem habe zudem die Forschung. Auf dem Gelände hat sich bereits das Werner-von-Siemens Centre for Industry and Science angesiedelt, die erste aktive Kooperation aus Wissenschaft und Industrie in der Siemensstadt Square.
Um die Neugierde der vielen Besucher zumindest etwas zu befriedigen, wird Siemens in Kürze ein Pilotbüro im denkmalgeschützten Verwaltungsgebäude an der Nonnendammallee eröffnen. Auf einer kleinen Fläche für 60 Mitarbeiter will der Konzern demonstrieren, wo die Reise hingehen kann. „Wir gehen hier weg von Effizienz hin zu Räumen mit hoher Aufenthaltsqualität, in denen man sich überall vernetzt austauschen kann.“
So wie die im Jahr 2020 ausgebrochene Corona-Pandemie das Denken über New Work maßgeblich beeinflusst hat, stellen die zuletzt explodierten Energiepreise die Unternehmen vor große Herausforderungen und bestärken das Thema Nachhaltigkeit. „Unsere hohen Klima- und Nachhaltigkeitsstandards verfolgen in erster Linie ökologische Ziele, die u. a. schon 2018 vorgesehen haben, dass wir uns unabhängig von fossilen Brennstoffen machen und Siemensstadt Square CO2-neutral betreiben“, sagt Kögl.
Ein zweiter Baustein sei „All Electric Buildings“ mit einer Energieversorgung zu 100 Prozent über erneuerbare Energien, beispielsweise über Wärmepumpen und PV-Anlagen. Ebenso nachhaltig will der Konzern ein vernetztes Mobilitätskonzept gestalten. Teil davon wird u. a.die Wiederinbetriebnahme der Siemensbahn auf dem historischen Streckenverlauf von Gartenfeld bis Jungfernheide bis 2029 sein, um den BER und den Berliner Hauptbahnhof günstig anzubinden. Kögl: „Unser Ziel ist es, kurze Wege zwischen Wohnen und Arbeiten zu ermöglichen. Das funktioniert natürlich nur, wenn die Infrastruktur stimmt.“

von Eli Hamacher