BW 01/2022 - Agenda
Neuanfang mit Fragezeichen
Zwar schlagen die Koalitionäre neue Töne an, doch große Veränderungen kündigen sich in ihrem Vertrag nicht an. Ein Blick der Wirtschaft auf die Leitlinien des frisch gewählten Senats.
<font color="#56BD66"> <b>Berlins neuer Senat</b> </font>
(vorne, v. l.): Lena Kreck (Justiz, Vielfalt & Antidiskriminierung), Katja Kipping (Integration, Arbeit & Soziales), die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey, Bettina Jarasch (Umwelt, Mobilität, Verbraucher- und Klimaschutz), Klaus Lederer (Kultur & Europa). Hinten (v. l.): Ulrike Gote (Wissenschaft, Gesundheit, Pflege & Gleichstellung), Stephan Schwarz (Wirtschaft, Energie & Betriebe), Andreas Geisel (Stadtentwicklung, Bauen & Wohnen), Iris Spranger (Inneres, Digitalisierung & Sport), Astrid-Sabine Busse (Bildung, Jugend & Familie), Daniel Wesener (Finanzen)
© GETTY IMAGES/SEAN GALLUP, FOTOSTUDIO CHARLOTTENBURG
Mit dem Wahlergebnis vom 26. September 2021 wurde klar: Die Berliner Bürgerinnen und Bürger wünschen sich eine weitere Amtszeit der drei Koalitionäre aus SPD, Grünen und der Linken. Der am 29. November vorgestellte Koalitionsvertrag der neuen alten Regierung entspricht diesem Wunsch nach Beständigkeit. Zwar schlagen die Koalitionäre an einigen Punkten neue Töne an, der große Ruf nach Veränderung blieb hingegen aus. So zieht die IHK Berlin eine gemischte Bilanz zu dem vorgestellten Vertrag, der für die neue Legislatur als Richtschnur für künftige Entscheidungen dienen wird. Gerade bei den Themen Verwaltung, Bildung und Digitalisierung hätte sich die Berliner Wirtschaft ambitioniertere Ziele gewünscht. Bei den Ressortzuschnitten der Verwaltungen gab es genauso wenig die gewünschte Veränderungskraft. Digitalisierung wird zwar nun als eigenes Thema ausgewiesen, allerdings nicht als eigenes übergeordnetes Thema in der Senatskanzlei, so wie es die IHK Berlin angeregt hatte, sondern sie ist bei der Senatsverwaltung für Inneres und Sport angesiedelt.
Die Koalition erkennt die Wirtschaft als Partner an und will diese einbinden. Das zeigt sich nicht zuletzt auch bei dem Vorhaben, ein Bündnis für Wohnungsneubau zu gründen, das die privaten Immobilienunternehmen mit ins Boot holen soll. Die von der Koalition angekündigte Vereinfachung, Beschleunigung und Digitalisierung der Planungs- und Genehmigungsverfahren ist genauso positiv wie längst überfällig.
Wichtiges Bekenntnis zur Metropolregion
„Unsere Stadt hat es verdient, dass sich der drängenden Probleme endlich angenommen wird. Es darf ab jetzt nichts mehr aufgeschoben werden“, formuliert IHK-Präsident Daniel-Jan Girl die grundsätzliche Linie, an der sich politisches Handeln in Berlin jetzt endlich bewegen muss. Zukunftsweisend sind das Bekenntnis zur Entwicklung der Metropolregion Berlin-Brandenburg und das Versprechen, besonders von der Pandemie betroffene Branchen zu stützen. Genauso richtig ist es aus Sicht der Berliner Wirtschaft, die Digitalisierung zum Schwerpunkt der Legislatur zu machen.
Mit der Etablierung eines Chief Digital Officers (CDO) in Verantwortung für die Digital- und die Smart City Strategie sowie die Digitalisierung der Verwaltung/Informations- und Kommunikationstechnologie- Steuerung (IKT) vollzieht die neue Koalition endlich den notwendigen Schritt zu einer strategischen Digitalisierungspolitik aus einer Hand. Insgesamt bleiben aber die Koalitionäre im Themenfeld Digitalisierung im Hinblick auf die Ziele und vor allem ihre Umsetzung zu unkonkret und unverbindlich. Diese Kritik ist auch auf die Pläne zur Verwaltungsmodernisierung anzuwenden. Mit der Ankündigung, insbesondere die Klärung der politischen Zuständigkeiten stärker in den Blick zu nehmen, zeigt der neue Senat, dass tief sitzende strukturelle Probleme erkannt wurden, entscheidend wird nun jedoch sein, wie effektiv die Planungen umgesetzt und wie eng die Wirtschaft an der Digitalisierung unternehmensrelevanter Verwaltungsleistungen beteiligt wird. Überzeugende kurz- wie auch mittelfristige Maßnahmen bleibt der Koalitionsvertrag hier jedoch insgesamt schuldig.
Eingriff in die Marktmechanismen
Ordnungspolitische Verwerfungen zeigen sich dagegen vor allem in dem Themenfeld um Energie, Klima und Umwelt. Egal ob Wärmenetz, Gaswirtschaft oder Solaranlagen, Mieterstromprojekte, Quartierslösungen und Ladesäulen – bevorzugt durch die Berliner Stadtwerke –: Bei der Energiewende setzt die Koalition einseitig auf (re)kommunalisierte Wirtschaftsstrukturen. Dabei kann die Privatwirtschaft mit ihrer hohen Innovations- und Leistungsfähigkeit wesentlich zum Transformationsprozess hin zur Klimaneutralität beitragen. Auch im Bereich Mobilität plant die Politik einen Eingriff in den Marktmechanismus. So sollen Touristen zukünftig verpflichtet werden, ein Gästeticket für den Öffentlichen Nahverkehr zu erwerben, um so den hiesigen Nahverkehr mitzufinanzieren. Ein solches Zwangsticket kann sowohl negative Auswirkungen auf die Attraktivität Berlins als Tourismusstandort haben als auch innerstädtische Hotelbetriebe gegenüber außerstädtischen benachteiligen.
Ausbildungsgarantie nicht zielführend
Eine mögliche Fehlsteuerung ergibt sich auch aus den Plänen rund um die Ausbildungsgarantie. So will der neue Senat Jugendlichen, für die das duale Ausbildungsangebot vermeintlich nicht ausreicht, subsidiäre Angebote unterbreiten. Dabei ist eine Ausbildungsgarantie aus Sicht der IHK Berlin weder notwendig noch zielführend. Ausbildungsinteressierten Jugendlichen in Berlin stehen ausreichend Plätze zur Verfügung. Eine Garantie nährt dagegen die Illusion auf Ausbildungs- und spätere Arbeitsplätze in Wunschberufen jenseits der eigentlichen Marktbedarfe. In dem rund 150-seitigen Koalitionsvertrag sind viele positive Punkte zu finden, die klar auch die Handschrift der Wirtschaft tragen könnten. Und einige Punkte, die die Wirtschaft sich anders gewünscht hätte. Doch eins ist wie jedes Mal nach einer neuen Regierungsbildung klar: Papier ist geduldig. Erst die Umsetzung der zahlreichen Regierungspläne wird zeigen, ob dieser neuen alten Regierung ein Neuanfang gelungen ist.