BW 04/2022 - Schwerpunkt | Interview

Die Sprache der Wirtschaft verstehen

Stephan Schwarz, Senator für Wirtschaft, Energie und Betriebe des Landes Berlin, weiß als ehemaliger Unternehmer und aus seinen Ehrenämtern bei Kammern, was Firmen bewegt
Stephan Schwarz trat das Amt des Wirtschaftssenators in außerordentlich schweren Zeiten an. Den Klimawandel, die Digitalisierung und die Fachkräftesicherung hält er für die größten aktuellen Herausforderungen. Gerade bei Letzterem kann die IHK, getragen von der Vollversammlung, seiner Ansicht nach eine ganz wichtige Rolle spielen.

Berliner Wirtschaft: Wenn dieses Interview erscheint, sind die berühmten ersten 100 Tage schon vorbei: Wie war’s?

Stephan Schwarz: Die Zeit ist rasant vergangen. Eine Schonfrist von 100 Tagen gab es leider nicht. Denn der Senat war krisengetrieben, erst von Corona, nun vom Krieg in der Ukraine. Trotzdem haben wir es geschafft, unser 100-Tage-Programm durchzusetzen. Die Zusammenarbeit im Senat habe ich als äußerst kollegial wahrgenommen – getragen von dem gemeinsamen Wunsch, unsere ambitionierten Ziele gemeinsam durchzusetzen.

Wenn Sie an Ihren ersten Arbeitstag als Senator in der Martin-Luther-Straße zurückdenken – was fällt Ihnen da als Erstes ein?

Die Bedeutung des grünen Stiftes. Den hat mir meine Vorgängerin Ramona Pop bei der Übergabe geschenkt. Das ist die Senatorenfarbe, die vieles möglich macht.

Und ganz ehrlich: Worüber haben Sie sich am meisten gewundert?

Gewundert habe ich mich, wie stark digitalisiert diese Verwaltung schon ist – mitsamt E-Akte und einer gut funktionierenden digitalen Infrastruktur.

Quereinsteiger in der Politik sind in Deutschland ja immer noch sehr selten, was denken Sie: Woran liegt das?

Das System Politik lässt wenig Möglichkeiten zu wechseln – und zwar in beide Richtungen. In anderen Ländern wie in England und den USA ist der Wechsel zwischen Politik und Wirtschaft viel selbstverständlicher, und die Sphären sind durchlässiger. In Deutschland ist diese Form des Rollenwechsels noch nicht so anerkannt.

Welche Vorteile sehen Sie darin, dass ein Unternehmer jetzt an der Spitze der Senatsverwaltung für Wirtschaft steht?

Aus Sicht der Unternehmen ist es gut, wenn auf der anderen Seite jemand die Sprache der Wirtschaft spricht und sie versteht. Ich kenne die Themen der Wirtschaft aus eigener Anschauung, daher kann es passieren, dass zuweilen Entscheidungen auch wirtschaftsnah entschieden werden.

Welche Schwerpunkte möchten Sie in den nächsten fünf Jahren setzen?

Dieser Senat ist mit der klaren Vorstellung an den Start gegangen, diese Stadt in Partnerschaft mit den Unternehmen voranzubringen und sie lebenswert und zukunftsfähig zu machen. Deshalb wird ein Schwerpunkt meiner Arbeit darin liegen, engen und regelmäßigen Kontakt mit den Unternehmen der Stadt zu pflegen, vom Handwerksbetrieb zum Großkonzern, vom Hightech-Start-up zum personenbezogenen Dienstleister. Einen weiteren Schwerpunkt werde ich darauf legen, Unternehmen und Investoren von außerhalb für Berlin zu gewinnen. Zudem werde ich mich dafür einsetzen, dass die Messe Berlin nach der Pandemie wieder auf Kurs gebracht wird.
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Es hieß häufig, dass sich unser Wirtschaftsmodell nach Corona grundlegend ändern muss, etwa was Mobilität angeht. Hat der bisherige Verlauf nicht eher gezeigt, dass das Modell sehr krisenfest ist?

In der Tat hat sich die Berliner Wirtschaft in der Gesamtschau als erstaunlich krisenfest erwiesen, wie übrigens bereits während der Finanzkrise nach 2008. Wir haben einen guten Branchenmix und mit der Digitalwirtschaft und der Gesundheitswirtschaft zwei Zukunftsfelder, auf denen Berlin absolut im Spitzenfeld agiert. Und auch unser Industriesektor ist zwar weniger ausgeprägt als in anderen Regionen, aber absolut wettbewerbsfähig, wie die außerordentlich hohe Exportquote zeigt. Und auch der Start-up-Sektor hat sich behauptet. 2021 war mit mehr als zehn Milliarden Euro Venture Capital für Berliner Start-ups sogar ein Rekordjahr. Manche Befürchtungen, Berlin müsse sich aufgrund der Pandemie komplett neu erfinden, haben sich zum Glück nicht bewahrheitet. Wenn jetzt auch die von der Pandemie gebeutelten Bereiche wieder auf die Beine kommen, wird die Berliner Wirtschaft schnell wieder auf den Wachstumspfad zurückkehren, auf dem sie sich vor der Pandemie befunden hat.

Was sind aus Ihrer Sicht die „Mega-Themen“ für die Berliner Wirtschaft – von Corona einmal abgesehen?

Niemand weiß, welche Auswirkungen der furchtbare Krieg in der Ukraine auf uns haben wird. Sicher ist, dass uns dies noch lange beschäftigen wird und sicher auch auf Feldern, auf denen wir noch nicht damit rechnen. Davon abgesehen sind die Mega-Themen für die Berliner Wirtschaft der Klimawandel, die Digitalisierung und der Fachkräftemangel. Dabei bietet gerade der Klimawandel Herausforderung und Chance zugleich. Die Dekarbonisierung der Wirtschaft zwingt jedes Unternehmen zum Umdenken und wird auch Kosten verursachen. Zugleich eröffnen sich neue technologische Möglichkeiten und neue Märkte, auf denen Berlin gemeinsam mit Brandenburg ein wichtiger Player werden kann. Ich denke dabei konkret an die Themen Wasserstoff und E-Mobilität. Hier haben Berlin und Brandenburg gemeinsam die Chance, ganz vorne mitzuspielen. Um die großen wirtschaftlichen Herausforderungen der Hauptstadtregion meistern zu können – sei es die Transformation der Wirtschaft hin zur Klimaneutralität, sei es die Nutzung der Digitalisierung als Chance –, muss die Verfügbarkeit von qualifizierten Fachkräften gesichert werden. Ohne die notwendigen Fachkräfte werden sich diese Ziele nicht verwirklichen lassen. Fachkräfte entwickeln sich zusehends zum wichtigsten Engpassfaktor für die wirtschaftliche Entwicklung. Betroffen sind alle Branchen: das Handwerk, der Bau, die Digitalwirtschaft und auch die Gastronomie. Besonders bedrohlich ist, dass Klimaschutz- und Energiesparmaßnahmen durch fehlende Fachkräfte deutlich beeinträchtigt werden könnten. Ähnliches gilt für den Wohnungsbau, den Berlin in dieser Legislaturperiode forcieren muss und will. Eine gemeinsame Fachkräftestrategie für Berlin und Brandenburg ist daher das Gebot der Stunde. Denn eine gemeinsame Wirtschaftsregion mit integriertem Arbeitsmarkt und wachsenden Pendlerverflechtungen in beide Richtungen erfordert auch hier eine enge Zusammenarbeit.

Welchen Stellenwert hat das Thema Nachhaltigkeit für Sie? Privat – und als Wirtschaftssenator?

Für Nachhaltigkeit tragen wir alle Verantwortung. Deswegen kann ich das gar nicht nur von einem privaten Standpunkt aus betrachten. Gerade als Wirtschaftssenator liegt mir Nachhaltigkeit am Herzen, da wir unser Wachstum und unseren Ressourcenverbrauch nur durch nachhaltiges Wirtschaften voneinander entkoppeln können. Das ist ein entscheidendes Kriterium für die Zukunftsfähigkeit unserer Wirtschaft und damit unseres Wohlstandes. In diesen besonderen Zeiten wird uns allen aber auch bewusst, dass nachhaltiges Wirtschaften auch Unabhängigkeit und Freiheit bedeutet. Erneuerbare Energie können wir selbst erzeugen, ohne Abhängigkeiten einzugehen. Deswegen freue ich mich umso mehr, dass wir den Berliner Unternehmen mit der erst kürzlich eingerichteten Koordinierungsstelle für Energieeffizienz und Klimaschutz im Betrieb, kurz KEK, konkrete Hilfe in diesem Bereich anbieten können. Die KEK soll die Unternehmen kostenfrei, neutral und ganz konkret in Sachen Energieeffizienz und Klimaschutz beraten, sodass eine Win-win-Situation für Unternehmen und Klimaschutz entsteht. So wird Nachhaltigkeit zum natürlichen Bestandteil in der Unternehmenskultur.

Haben Sie ein Lieblingsbeispiel von nachhaltigem Unternehmertum?

Auf der Pressekonferenz zur Eröffnung der Koordinierungsstelle für Energieeffizienz und Klimaschutz im Betrieb habe ich mit dem Geschäftsführer von Moll Marzipan, Herr Dr. Seitz, sprechen können. Er schilderte eindrücklich, wie sich Entscheidungen für mehr Nachhaltigkeit im Unternehmen rechnen und wie konsequenter Klimaschutz im Betrieb sich auch positiv auf das Betriebsklima und das Anwerben von Fachkräften auswirkt. Am Ende müssen sich Investitionen in Nachhaltigkeit natürlich aus Unternehmenssicht rechnen; das ist nachvollziehbar. Ein weiteres Lieblingsbeispiel ist „Original Unverpackt“. Dieser Ohne-Verpackung-Laden war einer der ersten in Deutschland und hat nicht nur die Art und Weise, wie der Lebensmittel- und Einzelhandel seinen Einkauf gestalten kann, verändert, sondern auch Veränderungen bei den Kundinnen und Kunden angestoßen. Auf so vielen Ebenen Veränderungen zu bewirken, finde ich bemerkenswert.

… und ein Beispiel, das vielleicht selbst für Umweltaktivisten überraschend wäre?

Wir erleben gerade, dass für sehr viele junge Menschen der Klimaschutz von überragender Bedeutung ist. Vielen geht dabei die Transformation hin zu einer nachhaltigen Wirtschaft nicht schnell genug. Ein wesentlicher Grund dafür ist der Mangel an Fachkräften. Mit einer dualen Ausbildung in einem der vielen Klimaberufe könnten junge Schulabgänger direkt und wirksam etwas für die Rettung unseres Planeten tun.

Zur nachhaltigen Wirtschaft gehört auch das Wohl der Mitarbeitenden. Was raten Sie Unternehmern: Wie können sie sich attraktiv für Fachkräfte machen?

Der Schlüssel sind partizipativer Führungsstil und eine exzellente Firmenkultur. Mit Bonuspaketen allein wird man die Fachkräfte von morgen nicht gewinnen können.

Viele Unternehmer setzen bei der Fachkräftesicherung verstärkt auf die duale Ausbildung, wünschen sich aber mehr Unterstützung vom Senat. Bessere Schulen, mehr Berufsorientierung – um nur zwei Forderungen zu nennen. Was kann die Politik und was können Unternehmen tun, um noch mehr Jugendliche in Ausbildung zu bringen?

Ich hoffe sehr, dass sich bei Unternehmen und Jugendlichen wieder mehr herumspricht, welche Chancen die duale Ausbildung bietet. Im Moment wird eine akademische Laufbahn von vielen bevorzugt. Dabei kann die betriebliche Ausbildung der Grundstein für eine betriebliche oder auch akademische Karriere sein, das Bildungssystem lässt hier viele Möglichkeiten offen.

Als Präsident der Handwerkskammer und Unternehmer hatten Sie das Thema Fachkräftemangel bereits auf der Agenda. Wie möchte jetzt der Wirtschaftssenator Stephan Schwarz dieses Thema angehen?

Ich bin dazu im ständigen Gespräch mit meiner Kollegin Katja Kipping, in deren Ressort die berufliche Bildung fällt, und unterstütze sie gerne auf ihrem Weg, die Bedingungen für berufliche Ausbildung in Berlin zu verbessern. Auch spreche ich das Thema regelmäßig bei meinen Besuchen in Unternehmen und bei sonstigen Kontakten mit Unternehmerinnen und Unternehmern an.

Sie kennen – wie wohl kein Wirtschaftssenator zuvor – die Arbeit in den Kammern. Warum braucht die Wirtschaft aus Ihrer Sicht Kammern?

Die Arbeit der Kammern wird in vielen anderen Ländern vom Staat wahrgenommen. Und es ist ein großes Geschenk, dass irgendwann einmal kluge Frauen und Männer Gesetze geschrieben haben, die festlegen, dass diese Aufgaben in Selbstverwaltung organisiert werden sollen. Eigentlich sind es öffentliche Aufgaben, aber der Staat hat gesagt: Ihr könnt es besser, weil ihr näher dran seid. Die Stärke des deutschen Kammersystems beweist das auch. Viele Länder wünschen sich auch so ein System, das die duale Ausbildung regelt.

Ab Ende des Monats können über 300.000 Berliner Unternehmerinnen und Unternehmer ihre ­Ver­treter in der Vollversammlung der IHK Berlin wählen. ­Als Ehrenpräsident der Handwerkskammer und ehemaliger Vizepräsident der IHK Berlin: Was würden Sie einem Unternehmer sagen, warum es wichtig ist, sich an den Wahlen zur Vollversammlung zu beteiligen?

Nur wenn sich Unternehmerinnen und Unternehmer selbst einsetzen, funktioniert Selbstverwaltung. Und wenn es nicht funktioniert, dann muss der Staat machen, und das ist oft die zweitbeste Lösung.

Und wenn der Unternehmer sagt: Die Kammer kann doch sowieso nichts für mich tun, warum soll ich dann überhaupt wählen? Was entgegnen Sie ihm?

Es ist ein solidarisches System. Wenn die Aufgabe der Staat übernehmen würde, hätte er die gleichen Pflichten und Aufgaben, nur hätte er keinen Einfluss mehr.

Welche Bedeutung hat für Sie ehrenamtliches Engagement?

Ehrenamtliches Engagement findet in Berlin in allen gesellschaftlichen Bereichen statt, so auch in der Wirtschaft. Gemeinsam mit der IHK haben wir in meiner Zeit als Handwerkskammerpräsident mit der Mendelssohn-Medaille Unternehmerinnen und Unternehmer geehrt, die sich in vorbildlicher Weise bürgerschaftlich engagieren. Für mich war es immer faszinierend zu sehen, welche Bandbreite an ehrenamtlichem Engagement es bei Unternehmen gibt. Vom Malermeister, der einfach einmal eine Kita gestrichen hat, weil sie furchtbar aussah und der Träger kein Geld hatte, bis hin zu breit gefächerten Corporate-Social-Responsibility-Programmen großer Unternehmen, die Schulprojekte unterstützen oder auf die Einhaltung höchster Sozialstandards achten. Ich glaube, nur so lässt sich eine Gesellschaft aufrechterhalten, wenn nicht alle nach ihren persönlichen Zielen streben, sondern man sich auch fragt, was man für die Gesellschaft tun kann.

Welche Erwartungen haben Sie an die Kammern für die Zusammenarbeit?

Ich wünsche mir, dass wir gemeinsam den Wirtschaftsstandort Berlin voranbringen und die Stärken wie unsere wissensbasierte Industrie über starkes Handwerk bis zu unseren aufstrebenden Start-ups nutzen, um Berlin als wichtige, europäische Wirtschaftsmetropole zu etablieren.

Wenn Sie der neu gewählten Vollversammlung der IHK Berlin einen Wunsch oder einen Denkanstoß übermitteln wollten, welcher wäre das?

Die große Herausforderung für die Wirtschaft ist es, genügend gute Fachkräfte für späteres Wachstum zu haben. Da spielt die IHK, getragen von der Vollversammlung, eine ganz wichtige Rolle, sowohl in der Erstausbildung wie auch in der Rekrutierung von Fachkräften und der Eingliederung von Fachkräften aus dem Ausland.

Und welche Botschaft würden Sie den Berliner Unternehmen an dieser Stelle gerne übermitteln?

Bildet bitte aus.


von Claudia Engfeld