BW 04/2022 - Agenda
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Lange Schatten des Krieges
Russlands Angriff auf die Ukraine hat die Welt und auch Berlins Wirtschaft erschüttert. Die Solidarität lässt die Menschen zusammenrücken
von Dr. Mateusz Hartwich
von Dr. Mateusz Hartwich
Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 änderte sich schlagartig die Weltlage. In vielen Städten des Landes sah sich die Bevölkerung russischen Angriffen ausgesetzt, vom ersten Tag an brach ein Flüchtlingsstrom in Richtung der sicheren Nachbarländer auf. Die Bestürzung war groß, die Reaktion der deutschen Öffentlichkeit schnell und eindeutig. Vertreter der Berliner Wirtschaft meldeten sich umgehend zu Wort. In einer ersten Stellungnahme schrieb IHK-Präsident Daniel-Jan Girl: „Unsere Gedanken sind bei den Opfern des Krieges und ihren Familien“. Und weiter: „Heute ist nicht der Tag, um die wirtschaftlichen Auswirkungen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine zu kommentieren“. Dass es unmittelbare Auswirkungen geben wird, die über gestörte Lieferketten weit hinausgehen, war vom ersten Tag an klar.
Bekanntheit erlangte die Berliner Firma Autodoc, die in einer beispiellosen Aktion über 100 Beschäftigte aus dem beschossenen Charkiw evakuierte. Weitere Unternehmen engagierten sich bei der Rettung bedrohter Mitarbeiter und Partner. Die IHK Berlin war eine der ersten Adressen, die einen Überblick über die wirtschaftlichen Auswirkungen (s. u.), aber auch über Möglichkeiten der Unterstützung bieten konnten. Was den Außenhandel angeht, spielen die Handelsbeziehungen in die Ukraine für die Berliner Wirtschaft eine untergeordnete Rolle. Im Jahr 2020 gingen Exporte im Wert von 87 Mio. Euro in das Land am Dnjepr, hauptsächlich pharmazeutische und ähnliche Erzeugnisse (40 Prozent aller Ausfuhren); die Importe betrugen 15 Mio. Euro. Der Stellenwert von Russland als Handelspartner sinkt seit Jahren, zuletzt belegte das Land Platz 11 der Exportmärkte mit 385 Mio. Euro Handelsvolumen beziehungsweise Platz 32 im Ranking der bedeutendsten Berliner Importmärkte (2020: 59 Mio. Euro).
Vom ersten Moment an war die Hilfsbereitschaft der Berliner Wirtschaft groß, im Verbund mit Solidaritätsaktionen in allen gesellschaftlichen Bereichen. Der Lichterfelder Fachhändler Tietz Baustoffe GmbH brachte nicht nur Hilfsgüter an die ukrainische Grenze, sondern nahm auf dem Rückweg 36 Frauen, Kinder und Menschen mit Behinderung sowie einen Hund nach Berlin mit. Das Transportunternehmen Flixbus fuhr am 10. März mit 25 Tonnen Hilfsgütern ins polnische Przemyśl und kam mit 50 Geflüchteten zurück.
Hilfe von Clubbetreibern und Dehoga
Neben Geld- und Sachspenden sind Unterstützungsaktionen von Branchen hervorzuheben, die stark unter der Corona-Pandemie gelitten haben. Unter dem Motto „Club Culture United – Stand Up for Ukraine“ haben Berliner Clubbetreiber einen Teil der Einnahmen vom ersten Wochenende nach Aufhebung der Beschränkungen (4.–6. März) gespendet. Auch der Berliner Dehoga koordinierte kurzfristig Hilfsaktionen vonseiten der Gastronomen und Hoteliers: Verpflegung und Übernachtungsmöglichkeiten für geflüchtete Menschen aus der Ukraine, meist Frauen mit ihren Kindern. Der Sterne-Gastronom Tim Raue organisierte kurzerhand eine große Spendenaktion seiner Mitarbeiter. In der Ukraine und ihren Nachbarländern tätige deutsche Handelsunternehmen wie Rewe, dm, Rossmann, Edeka und die Schwarz-Gruppe organisierten Geld- oder Sachspenden. Die Industrie- und Handelskammern und der DIHK unterstützten all diese Maßnahmen im Rahmen der gemeinsamen Aktion #WirtschaftHilft.
Initiative der IHK Berlin: Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter folgten dem Aufruf einer Kollegin und sammelten Sachspenden, die dann an die polnisch- ukrainische Grenze gebracht wurden
© IHK Berlin
Im März wurden in Berlin immer mehr ankommende Flüchtlinge aus dem Kriegsgebiet registriert – in einer Woche waren es schätzungsweise mehr als 70.000. Dabei konnte die Stadt auf etablierte Netzwerke von Freiwilligen und Hilfsorganisationen zurückgreifen, die seit 2015 aufgebaut worden waren. Eine große Rolle spielten dabei private Initiativen, auch vonseiten der Wirtschaft. Dazu zählt vor allem das Arrivo-Servicebüro als zentrale Anlauf- und Koordinierungsstelle für alle Berliner Unternehmen, die Geflüchtete in Arbeit und Ausbildung integrieren wollen. Eine schnelle Integration in den Arbeitsmarkt ist wichtiger Baustein einer Eingliederung der Ankommenden. Die Voraussetzungen scheinen gut: Zahlreiche Firmen nutzten die Ukraine-Hotline der IHK Berlin, um aufenthaltsrechtliche Fragen zu klären.
Ehrenamt hilft
Der Ausschuss Gesundheitswirtschaft der IHK Berlin hat gezielte Spendenaktion ins Leben gerufen
Medizinisches Material
Um den Menschen in der Ukraine dringend benötigte Medizinprodukte zur Verfügung stellen zu können, hat der Ausschuss Gesundheitswirtschaft unter seinen Mitgliedern eine Spendenaktion initiiert.
Verein Ukraine-Hilfe Berlin
„Wir arbeiten dabei mit dem Verein Ukraine-Hilfe Berlin zusammen. Von dort kommen die aktuellen Bedarfslisten, wir geben die Bedarfe an unsere Ausschussmitglieder weiter und unterstützen bei der Koordinierung“, so der Ausschussvorsitzende Günther Pätz. Es sind bereits mehrere Großlieferungen mit medizinischen Produkten zusammengekommen.
Beteiligte Unternehmen
Beteiligt haben sich Berlin Heart GmbH, Praxisklinik Charlottenburg GmbH, Knauer Wissenschaftliche Geräte GmbH, Eckert & Ziegler Strahlen- und Medizintechnik AG, CentroMed Therapie GmbH. Und der Betreiber eines Gesundheitshotels in Spandau bietet 35 Geflüchteten eine Unterkunft. Im Laufe des März wurde die Ausweitung der Spendenaktion vorbereitet.
Neuer Preisschub belastet Betriebe
Fast drei Viertel der Berliner Unternehmen sind laut aktueller IHK-Umfrage vom Krieg betroffen. Durch die höheren Kosten werden die Preise weiter steigen
von Christian Nestler
von Christian Nestler
Der Krieg in der Ukraine hat auch für die Berliner Wirtschaft teils gravierende Folgen: Knapp jedes fünfte Unternehmen ist direkt von Sanktionen betroffen. Indirekt bekommen 55 Prozent der Berliner Unternehmen die Folgen des Krieges zu spüren, etwa durch steigende Preise. Nur 28 Prozent der Betriebe sehen noch keinen Einfluss des Krieges auf ihr Geschäft – doch auch diese erwarten zumeist, dass sich dies in naher Zukunft ändern wird.
Energiekosten betreffen fast alle
Der Krieg verstärkt den bereits zu Jahresbeginn deutlichen konjunkturellen Gegenwind erheblich: Drei von vier Befragten spüren oder erwarten weiter steigende Kosten für Energie, 50 Prozent der Unternehmen müssen mit verteuerten Rohstoffen und Vorleistungen sowie gestörten Lieferketten umgehen. Ein Drittel der Unternehmen kommt überhaupt nicht mehr an benötigte Rohstoffe oder erwartet dies in den kommenden Wochen, ebenfalls ein Drittel fürchtet den Verlust von Geschäftspartnern oder erlebt diesen bereits. Besonders hart ist hier die Industrie getroffen, wo 43 Prozent der Betriebe Geschäftspartner verlieren oder dies in nächster Zukunft fürchten; bei den Dienstleistungsunternehmen ist jedes dritte Unternehmen betroffen. Jedes fünfte Unternehmen muss seine Geschäfte wegen der zunehmenden Handelshemmnisse einschränken oder wird dies demnächst tun. Immerhin 15 Prozent befürchten, dass die Rechtsunsicherheit zunehmen wird, und dass es im Zahlungsverkehr zu Hindernissen kommen könnte, sehen elf Prozent als mögliche Gefahr.
Auch für die Kunden wird es teurer
Mehr als die Hälfte der Unternehmen sieht keine andere Möglichkeit, die Steigerungen der Einkaufspreise zu verkraften, als diese an die Kunden weiterzugeben. Die bereits hohe Inflation wird einen neuen Schub erhalten. Ein Viertel der Verkehrsunternehmen plant oder setzt Preiserhöhungen bereits um, in der Industrie sind es 72 Prozent der Betriebe. Jedes vierte Unternehmen hält Investitionen zurück, jedes fünfte denkt über Personalanpassungen nach, ebenso viele werden ihre Lagerhaltung erhöhen. 17 Prozent machen sich auf die Suche nach neuen Lieferanten. Immerhin 15 Prozent wollen verstärkt auf erneuerbare Energie setzen, um weniger abhängig von Gas und Öl zu werden. Alle Ergebnisse finden sich auf der IHK-Website: ihk-berlin.de/wiz